Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über individuelles Greenwashing
Wir Öko-Heuchler

Die Wohlstandsgenährten sind heute die grössten Moralisten – und betreiben fortlaufend Greenwashing auf der individuellen Ebene. Das hindert uns daran, wirkliche Lösungen zu finden.
Publiziert: 03.04.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 02.04.2023 um 17:52 Uhr
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Menschen in der Wohlstandszone machen aus dem Essen, dem Wohnen, dem Reisen und weiss ich noch was eine hochmoralische Angelegenheit. Doch zugleich sind sie heuchlerisch, dass sich die Balken biegen. Alle beklagen die für die Umwelt negativen Effekte des Fliegens – aber reisen ohne Ende. Alle bedauern die negativen Auswirkungen gehobenen Essens für die CO2-Bilanz – aber die Sterne-Lokale schiessen wie Pilze aus dem Boden. Alle verdammen die Öl- und Gasheizungen – aber die Wohnfläche pro Wohlstandsbürger wächst unaufhaltsam.

Wir Wohlstandsbürger sind Meister des Selbstbetrugs. Das luxuriöse Leben reden wir schön, indem wir vegan speisen, CO2-Zertifikate kaufen und ein paar Bäumchen irgendwo auf der Welt pflanzen (lassen). Wir sind Ablasshändler, moderner: Greenwasher, ohne es uns einzugestehen. Wie kommt das?

Freiheit wird frivol, Zynismus kippt in Moralismus

Peter Sloterdijk, Meisterdenker aus Deutschland, erzählt unsere Geschichte in einem neuen Büchlein («Die Reue des Prometheus»). Sie geht so – im Schnelldurchlauf. Phase 1: Menschen beuten Menschen aus, zuerst die Herren die Leibeigenen, verfügbar gemachte Muskelkraft. Der wirtschaftliche Ausstieg der ganz wenigen beginnt. Phase 2: An die Stelle der Sklaven treten die Arbeiter, die für Kapitalbesitzer schuften. Der Wohlstand einiger steigt weiter an. Phase 3: An die Stelle der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen tritt die Ausbeutung der Natur. Menschen machen sich fossile Energie zunutze, Feuer und Flamme werden in Verbindung mit Ingenieurskunst zu den Triebkräften der Moderne – es entsteht Massenwohlstand. Phase 4, Gegenwart: Nur noch wenige arbeiten hart, die unternehmerischen Individuen, doch es wächst die Schar der Arbeitsverweigerer, die Konsum und Freizeit maximieren. Freiheit wird frivol, Zynismus kippt in Moralismus. Und jeder verdrängt damit, dass das ganze moderne, luxuriöse Leben auf der Abfackelung unterirdischer Wälder beruht, die eines garantiert nicht tun: nachwachsen.

Wir Wohlstandsbürger sind Meister des Selbstbetrugs. Das luxuriöse Leben reden wir schön, indem wir vegan speisen, CO2-Zertifikate kaufen und ein paar Bäumchen irgendwo auf der Welt pflanzen (lassen).
Foto: DUKAS

Stoppen wir erst mal den Greenwashing-Wahnsinn

Wir sind nach Sloterdijk an eine Grenze gelangt. Gefährliche Ökoterroristen träumen von einer Rückkehr zur harmonischen Koexistenz mit der Natur, die es nie gab. Hoffnungslos sind auch die Eskapisten, die von Zivilisationen jenseits des Planeten Erde fantasieren, die es nie geben wird. Es bleiben die Vertreter der ökologischen Intelligenz. Sie setzen auf die Erfindungsgabe des menschlichen Geistes, der unter dem aktuellen Ökostress neue, nachhaltige, technische avancierte Lebensmodelle entwickelt.

Darum: Stoppen wir erst mal den Greenwashing-Wahnsinn. Und dann, in Sloterdijks Worten: Firefighters aller Länder, dämmt die Brände ein!

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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