Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über Russland, China und die USA
Vergiss den Zeitgeist – die sechs Lektionen eines Automechs

Der Zeitgeist korrumpiert – die Wirklichkeit nicht. Das wissen Chrampfer mit eigenem Kopf. Mein Vater war so einer.
Publiziert: 07.08.2022 um 10:59 Uhr
René Scheu

Ich blicke auf die Welt, und ich sehe meinen verstorbenen Vater vor mir. Dieser Ein-Mann-Garagist, der Volvos reparierte («die sind sicher und fahren ewig»), schuftete zwar mit den Händen. Aber er dachte mit dem eigenen Kopf.

Ein Selberdenker in Arbeiterkluft: Schnauzbart, solider Händedruck, deftige Sprache. Wenn er nicht unter Autos lag, beugte er sich über Bücher: Geldpolitik, Wirtschaftspolitik, Geopolitik, Önologie (dazu mehr am Ende). Stephan Scheu, geboren 1946, war ein Berserker-Autodidakt, seine Volvo-Kunden waren die Debattier-Community.

Meines Vaters Lektionen

Heute würde man meinen Vater einen Prepper nennen, jemanden, der sich auf den Super-GAU vorbereitet. Damals hiess das noch Kalter Krieger. Auf diesen Titel war er stolz – weil er für historischen Realismus bürgte, nicht für postheroische Selbsttäuschung. Sein Basso continuo: Hörst du auf den Zeitgeist, lebst du zwar auf kurze Frist bequem, aber du liegst langfristig daneben. In seiner kleinen Garage predigte er:

Blick-Kolumnist René Scheu.
Foto: Thomas Meier
  • Lektion 1: Der Kalte Krieg war nie zu Ende – zu Ende gegangen ist nur die Fähigkeit des Westens, ihn zu begreifen. Russland ist und bleibt ein aggressiver Staat mit Phantomschmerzen und Rachefantasien. Mein Vater hatte ein Exemplar von Solschenizyns «Der Archipel Gulag» in seiner Handbibliothek stehen.
  • Lektion 2: China, ebenfalls ein grosses Kulturvolk, hat dem Westen nie verziehen, dass dieser es im 19. Jahrhundert unterjochte. Die Chinesen werden alle offenen Rechnungen begleichen: still, ausdauernd und total.
  • Lektion 3: Die USA sind ein Hegemon auf tönernen Füssen. Der Dollar ist als Weltwährung durch die militärische Vormacht auf der Welt besichert. Die Amerikaner drucken Unmengen von Geld und finanzieren damit ihre staatliche Schuldenwirtschaft, derweil sie infrastrukturell und bildungsmässig zerfallen.
  • Lektion 4: Zentralbanken sind nicht die Lösung, sondern das Problem, frei nach dem liberalen Publizisten Roland Baader, dessen Bücher wie «Geldsozialismus» mein Vater verschlang – Inflation wird kommen. Ohne Schuld ist nur, wer ohne Schulden ist – er allein kann gut schlafen.
  • Lektion 5: Es gibt keine Weltoffenheit ohne Unabhängigkeit, weder für Staaten noch für Menschen. Meines Vaters Logik: Nur wer im Notfall ein Mindestmass an Energie und lebenswichtigen Gütern selber produzieren kann, darf sich Kosmopolit nennen, alle anderen sind bloss Schwätzer.
  • Lektion 6: Die linken Etatisten sind frivol geworden – sie interessiert nur noch, wie man Geld (um-)verteilt, nicht, wie man es hart verdient. Und die bürgerlichen Sozialisten machen das Spiel mit.

Meine Lektion? Versuche, die Wirklichkeit zu verstehen – sie korrumpiert dich nicht, der Zeitgeist hingegen schon. Und sorge stets dafür, dass dein Weinkeller gut bestückt ist.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

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