Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» übers Rentenalter
Wer länger arbeitet, lebt auch länger

Arbeiten bis ins hohe Alter statt AHV-Reförmchen: Was wir vom italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella (80) lernen können.
Publiziert: 21.02.2022 um 00:30 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2022 um 13:40 Uhr
René Scheu

Italien – ist das nicht Pasta, Pizza und Frittura mista? Ist es nicht politisches Chaos, Staatsverschuldung, Bürokratenwahn? Klar, niemand pflegt die Kunst der Kulinarik so hingebungsvoll wie die Nachkommen der Römer. Und ja, das Bel paese leidet an Reformstau. Aber nein, wir sollten im Norden nicht immer nur milde über die Italiener lächeln. Wir sollten von ihnen lernen.

Sergio Mattarella wurde kürzlich zum zweiten Mal als italienischer Staatspräsident vereidigt, für weitere sieben Jahre. Der heute 80-Jährige klebt nicht an seinem Sessel, sondern tut es aus Verantwortungsgefühl. Er gab dem inständigen Bitten der italienischen Bürger nach. Insofern war Mattarellas Annahme ein heroischer Akt. Aber es war zugleich mehr – es war auch eine lebenskluge Tat.

Zwar hat Mattarella nun weniger Zeit für seine Enkel. Aber da er ein informierter Mann ist, weiss er, was die Forschung sagt: Längeres Arbeiten vermindert das Sterberisiko – unabhängig vom Gesundheitszustand. Denn Arbeit bringt Sinn. Struktur. Status. Gesundheit. Arbeit bringt Glück.

Kolumnist René Scheu plädiert für längeres Arbeiten.
Foto: Thomas Meier
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Fetisch 65 (oder 64)

In der reichen Schweiz gilt derweil der Fetisch, dass mit 65 Jahren Schluss sein muss mit lustig. Die meisten Bundesräte liessen sich zuletzt frühpensionieren (die löbliche Ausnahme bildet der unermüdliche Ueli Maurer). Die meisten Schweizer gehen spätestens mit 65 in Rente, die meisten Schweizerinnen mit 64 Jahren. Weniger als drei Prozent schieben ihre AHV-Rente auf.

Gewerkschafter aller Parteien haben aus dem Kampf für den Fetisch ihre Raison d’être gemacht. Die angeblich Progressiven sind die Strukturstockkonservativen – es lebe die Besitzstandswahrung. Doch was die einen zu viel bekommen, bezahlen die anderen, in diesem Fall: die Aktiven.

Die Aussichten wären grossartig

Das Umlageergebnis der AHV wird ohne Reform schon nächstes Jahr konstant negativ ausfallen. Auch in der beruflichen Vorsorge werden jedes Jahr Hunderte von Millionen von Franken von Jünger zu Älter umverteilt. Das ist nicht nur systemwidrig, es ist zynisch. Doch diskutieren wir in der Schweiz seit Jahren über Reförmchen – in Minischritten zum Rentenalter 65 für Frauen, Kompensation für Frauen der Übergangsgeneration inklusive, schleichende Erhöhung der Mehrwertsteuer, AHV-fremde Gelder vom Goldesel Nationalbank.

Wohlstand macht träge. Und blind. Im Grunde ist doch klar: Arbeit hält fit. Mehr denn je, weil der Kopf gebraucht und nicht mehr der Körper geschunden wird. Wir leben immer länger und gesünder. Und es gibt eine Menge spannende Arbeit zu tun. Grossartige Aussichten – eigentlich.

Der Sizilianer Sergio Mattarella ist ein Vorbild für uns Schweizer.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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