Kolumne «Alles wird gut» über die Cancel-Kultur
Weg damit! Weg! Weg! Weg!

Kann ein schlimmer Mensch grosse Kunst hervorbringen? Und macht das sein Werk kleiner? Die Diskussion hat Aktualität erhalten, seit die MeToo-Bewegung den fantastischen Schriftsteller Philip Roth wegen Frauenfeindlichkeit ins Visier genommen hat.
Publiziert: 03.05.2021 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 02.05.2021 um 23:01 Uhr
Ursula von Arx

Dass ein guter Künstler nicht notwendigerweise ein guter Mensch sein muss, sollte uns wirklich nicht mehr überraschen. Denn wie soll einer menschliche Abgründe erkunden, sezieren, ausdrücken können, ohne diese irgendwie mit sich herumzutragen? Wie soll einer von Obsessionen, Verzweiflung, innerer Leere erzählen, ohne selber eine erfahrungssatte Ahnung davon zu haben?

Und doch hat die Erkenntnis wieder Neuigkeitswert, dass Schrecken und Schönheit sich nicht ausschliessen, sondern sogar zusammenhängen können. Es scheint für viele ein schockierendes Erlebnis zu sein, aus zwei neuen Biografien über den 2018 verstorbenen amerikanischen Schriftsteller und ewigen Nobelpreisanwärter Philip Roth erfahren zu müssen, dass dieser nicht nur dauererregte, dauermasturbierende, frauenverachtende Romanfiguren geschaffen hat, sondern auch im realen Leben ein Verhalten an den Tag legte, das für sein Umfeld oft sehr verletzend war, vor allem für Frauen.

Nieder mit den Büchern des Frauenfeindes?

Nun wäre es fatal, das verheerende Verhalten eines Menschen mit der Grossartigkeit seines Werks zu entschuldigen. Es ist gut, wenn Fiesheiten benannt, kritisiert, geächtet werden.

Ursula von Arx, Autorin.
Foto: Thomas Buchwalder

Aber das Gegenteil ist ebenso fatal: Einen Teil für das Ganze zu nehmen, Pars pro Toto, und alles zu streichen, alles aus dem Blick räumen zu wollen, was mit dieser Person zu tun hat, nicht zuletzt ihr Werk, wie das jetzt bei Philip Roth diskutiert wird.

MeToo sei bereit, Philip Roth zu canceln, schrieb «The Sunday Times». Roths Romane stünden auf der falschen Seite von MeToo, sagte die Schriftstellerin Sandra Newman. Auch ihre Kollegin Meg Elison sieht die Zeit gekommen, Roths Denkmal zu stürzen, so wie man die Denkmäler von Sklavenhaltern stürzt. Elison schätzt Roth zwar als «fantastischen Schriftsteller», aber sein Werk sei durchdrungen von Frauenfeindlichkeit.

Überall ein Mangel, nirgends ein Trost

Das stimmt. Allerdings ist es nicht nur von Misogynie durchdrungen, sondern auch von Alter, Tod, Angst, Krebs, Dreck, es ist bevölkert mit Männern, die sich in eine weibliche dauererregte Brust verwandeln, die mit Impotenz kämpfen, die lächerlich, gebrochen, beschädigt, kaputt sind. Roths Welt ist untröstlich. Untröstlich wahr, untröstlich schön.

In jedem guten Buch wie auch in jedem guten Leben steckt die Einsicht in einen Mangel. Und die Sehnsucht, ihn zu beheben. Alles wird gut.

Ursula von Arx findet Adolf Muschgs Aussage, die Cancel Culture sei «im Grunde eine Form von Auschwitz», auch missraten, klar. Aber deswegen das ganze lebendige Gespräch zum Skandal erklären? Und vergessen, was Muschg der Cancel Culture vor allem vorwirft, nämlich einen völligen Mangel an Interesse an den eigenen Widersprüchen? Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im BLICK.


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