Kolumne «Meine Generation» über Aufmerksamkeit
Viel zu viel viel zu kurz

Man weiss es ja: Das Internet und besonders die sozialen Medien bescheren uns Überstimulation im Überfluss – mit asozialen Folgen fürs Zusammenleben. Aber warum ist es so schwer, sich dem Sog zu entziehen?
Publiziert: 08.04.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.04.2022 um 18:49 Uhr
Noa Dibbasey

Kennen Sie den Begriff «Deep Talk»? Den nutzen wir Jungen, um jegliche Art von einigermassen tiefgründigen Gesprächen zu beschreiben. Zugegeben, der Terminus wird ziemlich breit gefächert eingesetzt. Er erstreckt sich von lockeren Dating-Gschichtli über Traumatabewältigungen bis zu existenzialistischen Theorien.

Im Geheimen zählte ich mich immer zu den wahren Deep-Talkerinnen. Jenen, die nicht nur pseudophilosophische Floskeln in einen Dialog streuen, sondern wirklich zuhören und bedacht aufs Gegenüber eingehen. In letzter Zeit merke ich aber, wie unglaublich schwer es mir fällt, mich so richtig auf ein Gespräch einzulassen – viel zu schnell schweifen meine Gedanken ab, ich klinke mich aus, langweile mich gar manchmal.

Ist der Talk beendet, bleibe ich genervt zurück. Wieso habe ich die Fähigkeit verloren, konzentriert auf ein Individuum einzugehen? Da spüre ich es nun am eigenen Leib: dieses Aufmerksamkeitsdefizit meiner Generation, vor dem alle warnen. Diese ständig schrumpfende Anzahl von Sekunden, die wir einer Sache noch vollste Zuwendung schenken.

Noa Dibbasey tut sich schwer, sich dem Sog der sozialen Medien zu entziehen – wie so viele ihrer Generation.
Foto: Keystone

Atempause ist fast unerträglich

Danke Tiktok dafür. Und allgemein den sozialen Medien. Die kopieren sich ohnehin ständig gegenseitig, so dass mittlerweile überall ein niemals enden wollender Strom von Videos und anderen Inhalten zu finden ist. Man kann ins Unendliche über den Bildschirm scrollen und wird abwechslungsweise bombardiert mit herzigen, politischen, übersexualisierten, lustigen, erschreckenden Videos und allem, was das Netz sonst noch so zu bieten hat. Ein Wechselbad der Gefühle.

Alle wissen, dass es zu viel ist, diese Überstimulation, die uns das Internet auf ständigen Abruf verschafft. Dass sie abstumpft und kurze Atempausen schier unerträglich macht. Aber es ist halt so gemütlich. Hirn aus, Berieselung an – Unterhaltung, ohne einen Finger (oder eine Hirnzelle) dafür zu krümmen.

Wie Sex mit dem Ex

Legt man das Handy drei Stunden später weg, fühlt man sich meistens richtig dreckig. Hatten Sie mal Sex mit dem Ex? Ja, so. Unbefriedigende Lustbefriedigung, emotionale Achterbahn und verlorene Zeit.

Dabei würde ich gerne wieder «Deep Talks» führen oder meine Aufmerksamkeit der analogen Welt widmen. Ich habe mir schon tausendmal vorgenommen, weniger Zeit auf solchen Apps zu verbringen, war sogar kurz davor, mir wieder ein Nokia zu kaufen, auf dem man nur SMS verschicken und telefonieren kann.

Aber der Sog ist zu stark. So stark, dass ich die letzten paar Stunden auf Tiktok verbrachte – und weder ein gutes Gespräch geführt noch an einem guten Ende für diese Kolumne herumstudiert habe.

Noa Dibbasey (21) hat nach dem Schreiben dieses Textes die Tiktok-App von ihrem iPhone gelöscht. Mal schauen, wie lange sie das durchhält. Sie schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.

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