Lukas Bärfuss
Der Tausch

Autorität beruht auf einem Tauschgeschäft: Übertragung der Macht und Loyalität gegen die Zusicherung von Schutz und Privilegien. Wenn es Herrschenden nicht gelingt, die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen, dann fühlen sich die Beherrschten nicht mehr gebunden.
Publiziert: 16.08.2020 um 17:28 Uhr
|
Aktualisiert: 18.09.2020 um 17:29 Uhr
Lukas Bärfuss

Lassen Sie uns für einen Moment das Rad der Zeit zurückdrehen.

An einem Strand irgendwo in der Ägäis belagert ein griechisches Heer die Stadt Troja, als sich ein alter Mann dem Feldlager nähert und von den Soldaten die Herausgabe seiner Tochter fordert, eine junge Frau namens Chrysëis, die vom Heerführer der Griechen, dem König Agamemnon, entführt wurde.

Die Soldaten fürchten sich vor dem Greis, denn er ist ein Priester des Gottes Phoibos Apollon und pflegt die besten Beziehungen zu den Unsterblichen. Es wäre klüger, sich deren Zorn nicht zuzuziehen und Chrysëis auszuliefern. Aber Agamemnon lässt sich nicht einschüchtern. Die Tochter werde er erst herausgeben, nachdem er sie restlos ausgebeutet habe, bis dahin müsse sie ihm zu Diensten sein, tagsüber als Arbeiterin am Webstuhl, nachts als Sexsklavin in seinem Bett. Gegen dieses Verdikt wagen die Soldaten nicht aufzubegehren, und unter wüsten Drohungen schickt Agamemnon den Priester zum Teufel.

So kommt es, wie es kommen muss. Der Gott Phoibos Apollon steht treu zu seinem Diener. Zürnend im Herzen, wie es heisst, mit dem Bogen über der Schulter und den klirrenden Pfeilen im Köcher, bestraft er den Frevler Agamemnon und schickt ins Lager seiner griechischen Soldaten eine tödliche Pest. Neun Tage lang brennen die Scheiterhaufen mit den Leichen der dahingerafften Soldaten.

Agamemnon muss das Unrecht schliesslich sühnen und die entführte Chrysëis zurückgeben, erst danach verschwindet die Seuche. Aber mit seiner Kriegsbeute verliert der Anführer auch einen Teil seiner Autorität, und um diesen Machtverlust zu kompensieren und seine Superiorität zu erneuern, fordert er von seinem stärksten Krieger Achill eine Kompensation. Er soll Agamemnon für den Verlust entschädigen und ihm seinerseits die Kriegsbeute überlassen, die versklavte Brisëis.

Mit diesen Ereignissen eröffnet der antike Dichter Homer sein Epos «Ilias», und so beginnt die europäische Literatur mit etwas, das uns heute immer noch beschäftigt: mit der Erfahrung einer Seuche.

Ein Virus ist keine Strafe

Die «Ilias» ist eine so erhellende wie deprimierende Lektüre. Zwar verbindet uns nicht mehr viel mit den antiken Griechen. Gesellschaftsform, Technologie, Kultur – dies alles unterscheidet uns. Gleichzeitig scheint sich in wesentlichen Belangen nur wenig geändert zu haben. So ist der Krieg bis heute eine strategische Möglichkeit geblieben. Bis heute setzen Männer ihre Interessen mit Gewalt durch. Patriarchale Gesellschaften, besonders in bewaffneten Konflikten, betrachten Frauen immer noch als Sache und behandeln sie als Kriegsbeute. Und schliesslich, und für uns Zeitgenossen gerade von besonderem Interesse: Auch nach dreitausend Jahren rütteln Epidemien an der bestehenden Ordnung und bringen Hierarchien ins Wanken. Und von diesem Erfahrungsschatz können wir noch heute profitieren. Denn Homer zeigt in allen Einzelheiten, auf welche Weise die Macht erodiert.

Autorität beruht auf einem Tauschgeschäft: Übertragung der Macht und Loyalität gegen die Zusicherung von Schutz und Privilegien. Wenn es den Herrschenden nicht gelingt, die Bevölkerung vor den drohenden Gefahren zu schützen – welche Form diese Gefahren auch immer annehmen, ob als Umweltbedrohung, feindliche Mächte oder eben Krankheiten –, und wenn sie gleichzeitig die zugesicherten Privilegien nicht mehr garantieren können, dann fühlen sich die Beherrschten nicht mehr gebunden und die Herrschaft gerät in eine Legitimitätskrise.

Natürlich glauben wir im 21. Jahrhundert als Gesellschaft nicht mehr an die Götter und gehen nicht davon aus, dass ein Verstoss gegen ihre Ordnung augenblicklich die Rache der Unsterblichen nach sich zieht. Ein Virus ist keine Strafe, es lässt sich weder religiös noch moralisch erklären und schon gar nicht bekämpfen. Trotzdem muss die Pandemie auch heute noch als Metapher für die grundsätzliche Verfasstheit unserer Gesellschaft dienen. So hört man häufig, durch die Pandemie komme alles, was bisher unter den Teppich gekehrt wurde, nun schonungslos ans Tageslicht. Die Exzesse der Globalisierung und die Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, die globalen Herausforderungen zu erkennen, geschweige denn anzunehmen – durch diese Pandemie werde dies nun endlich offenbar. Nun müsse auch der Letzte begreifen, wie falsch unser Lebensstil war.

Opportunismus darf sich nicht offen zeigen

Diese Erzählung gibt sich als Systemkritik, aber allzu häufig ist sie nur eine Entlastungskonstruktion. Denn natürlich lagen die Tatsachen schon vor Corona auf dem Tisch. Wir hätten als Gesellschaft vor Jahrzehnten handeln müssen. Aber eine Veränderung war für die meisten nicht notwendig. Es ist vielleicht unangenehm, aber es gefährdet unseren Lebensstil nicht wesentlich, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken. Vom Klimawandel hofften manche, er würde sich über einen genügend langen Zeitraum entwickeln, damit sich die Wirtschaft an die veränderten Umstände anpassen und sogar von den neuen Möglichkeiten profitieren könnte.

Achill stört sich nicht am Frevel seines Anführers. Das Schicksal der jungen Frau ist ihm einerlei. Er revoltiert erst gegen Agamemnon, als er ihm seinen Anteil an der Kriegsbeute hergeben muss. Obwohl seine Hände einen grösseren Teil der Kriegsarbeit verrichteten, so beklagt er sich, schanze sich Agamemnon stets den besten Teil der Beute zu. Er habe dies immer geduldet, aber nun, da ihm sogar dieser kleine Anteil streitig gemacht werde, fühle er sich nicht mehr zu Loyalität verpflichtet. So geht er, verlässt das Heerlager, schwächt die Griechen und erinnert sich erst viel später, als seine Landsleute in höchster Gefahr sind, seiner Treue.

Zu diesem Verhalten Achills gibt es bis heute erstaunliche Parallelen. Seine Argumente werden auch heute erhoben, auch wenn sie meistens einen Umweg gehen und sich kaschieren müssen. Der Opportunismus darf sich nicht offen zeigen.

Kampf um globale Gerechtigkeit

Der Vertrag in den westlichen Gesellschaften lautete bisher: Solange die Breite der Bevölkerung von der Plünderung der natürlichen Ressourcen profitieren und gleichzeitig einen Teil der Gewinne durch die globale Ungerechtigkeit abschöpfen konnte und im Grossen und Ganzen vor ihren negativen Folgen, wie etwa der Migration, geschützt wurde, so lange war die Kritik nur eine diskursive, oder anders gesagt, bloss eine rhetorische und führte nicht zu einer Forderung nach einer grundlegenden Umwälzung der beherrschenden Ordnung. Dieses Beteiligungsmodell an den Ausbeutungsüberschüssen haben viele auch nichtwestliche Staaten in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger erfolgreich übernommen. Natürlich haben die Bürger, egal in welcher Kultur und egal welcher politischer Couleur, lange vor Corona begriffen, dass dieses System in seiner aktuellen Form nicht nachhaltig ist und keine Zukunft hat. Es ist dem Kapitalismus nicht gelungen, auf globaler Ebene den Fortschrittsgewinn gerechter zu verteilen, denn Gleichheit ist ihm grundsätzlich ein Gräuel. Er will beständig ein Gefälle zwischen Siegern und Verlierern produzieren. Nur so kann er den Wettbewerb aller gegen alle lebendig erhalten.

Natürlich kann man mit gutem Recht behaupten, dass viele Parameter in die richtige Richtung weisen. Weltweit nimmt die absolute Armut ebenso ab wie die Kindersterblichkeit und die Zahl der Opfer der bewaffneten Konflikte. Aber wie zweifelhaft diese Position ist, sieht man daran, wie schwer es fiele, sie in Aleppo oder im Sudan zu vertreten. Das Befinden einer Familie oder irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe, deren Mitglieder untereinander solidarisch und emphatisch sind, misst sich am Befinden der schwächsten Personen, und es bedarf einer Ausgrenzung, damit man dies übersehen kann. Nur wenn man für den notwendigen Ausgleich sorgt, hilft das Wohlergehen des einen dem Problem des anderen. Wenn in einer Familie von Arbeitslosen jemand eine Stelle findet, dann wird sich das allgemeine Befinden nur dann steigern, wenn der neue Verdienst in der Familie verteilt wird.

Auch nach Corona gibt es für unsere Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse eine wesentliche Aufgabe: den Kampf um globale Gerechtigkeit. Erst sie führt zu mehr Stabilität und zu einer zielorientierten und sinnstiftenden Politik. Der Westen wird einen Teil seiner Beute zurückgeben müssen, und wir sollten bei Homer lernen, dass wir dem Beispiel Agamemnons nicht folgen sollten und es dumm wäre, dafür eine Kompensation zu fordern.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?