Milena Moser
2020, ein Nachruf

Das Beste, was man über das Jahr 2020 sagen kann, ist, dass es vorbei ist. Oder so gut wie. Doch man soll den Tag nicht vor dem Abend loben und das Schicksal nicht versuchen. Wenn uns dieses Jahr etwas gelehrt hat, dann ist es das: Nichts ist selbstverständlich.
Publiziert: 27.12.2020 um 08:00 Uhr
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Aktualisiert: 26.03.2021 um 17:02 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Für mich hat dieses unberechenbare «Jahr der Herausforderung», wie ich es nenne, schon Ende 2019 begonnen. Da flog ich nämlich für ein paar Tage nach Paris, um einen Geburtstag zu feiern. Es war die wahnwitzigste und unvernünftigste Reise, die ich je gemacht hatte, geradezu amerikanisch in ihrer Anmassung. Für diese kurze Zeit einen so langen Flug auf sich zu nehmen, war noch das Geringste.

Meine Freundin Theresa, die ich seit etwa zwanzig Jahren kenne, feierte einen runden Geburtstag. Doch in den Monaten davor hatte sie nicht nur eine schmerzhafte Trennung, sondern auch eine brutale Diagnose zu verkraften. Die Lust zum Feiern war ihr erst mal vergangen.

«Wenn du dir irgendwas wünschen könntest», versuchte ich sie aufzumuntern. «Egal, was?»

«Naja, ich wollte immer nach Paris …»

«Okay», sagte ich. «Paris.»

Doch im selben Moment wollte ich es auch schon wieder zurücknehmen. Ich konnte doch unmöglich nach Paris fliegen! Victor ging es damals gesundheitlich nicht besonders, er sollte im Januar wieder operiert werden, ich konnte ihn unmöglich allein lassen und überhaupt …

«Untersteh dich», sagte er. «Natürlich fliegst du, das ist genau, was ihr beide braucht. Ich verspreche dir, ich werde nicht ausgerechnet in dieser Woche sterben!» Dieses Versprechen hielt er tatsächlich auch. Allerdings landete er trotzdem im Notfall, nicht wegen seiner Herzkrankheit, sondern weil eine der Katzen die japanische Säge mit einem Spielzeug verwechselt hatte. Was er mir aber wohlweislich erst nach meiner Rückkehr erzählte.

In Paris ging unterdessen auch nicht alles nach Plan. Eigentlich überhaupt nichts. Am Tag unserer Ankunft wurde ein Streik ausgerufen. Keine Züge, keine Metro. Gestresste Menschen überall, gereizte Stimmung. Die Mietwohnung sah völlig anders aus als auf den Bildern, und die Heizung funktionierte auch nicht. Wir waren weder für die Kälte noch für die stundenlangen Fussmärsche ausgerüstet. Und am letzten Abend wurden wir auch noch krank.

Und doch – es waren verzauberte Tage. Die Tatsache, dass wir uns etwas derart Verrücktes und Unvernünftiges gegönnt hatten, verlieh allem einen unwirklichen Glanz. Ziellos wanderten wir in der Stadt herum, entdeckten verwunschene Ecken und Strassenzüge und altmodische Lokale. Wir hatten die Museen für uns alleine, wir kamen mit allen möglichen Leuten ins Gespräch, wir holten uns Blasen an den Füssen und gingen trotzdem immer weiter. Wir assen blutige Steaks und Berge von Meeresfrüchten und Zitronentörtchen. Wir sassen in Wolldecken gehüllt in der schmuddeligen Wohnung, tranken Champagner und lasen. Wir schauten uns an und sagten wieder und wieder: «Wir sind in Paris. Wir sind tatsächlich in Paris!»

Später dachte ich oft an diese Reise zurück. Sie war ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen würde. Sie hatte mich auf 2020 vorbereitet. Sie hatte mir bewiesen, dass ich es kann. Ich kann damit umgehen, dass sich das Leben nicht nach meinen Vorstellungen und Wünschen richtet. Ich kann mich anpassen.

Das vergangene Jahr war gnadenlos. Und doch hat es mich gestärkt. Ich weiss jetzt, dass ich mehr aushalte, mehr kann, als ich mir zugetraut hätte. Ich habe ein Reservoir an Hoffnung, von dem ich nichts wusste.

In diesem Sinne bin ich diesem «Jahr der Herausforderung» sogar dankbar. Aber ich finde auch, es reicht jetzt langsam.

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