Milena Moser
Das Jahr der Angst

Hier in Amerika hat das Jahr schlecht begonnen. Ganz schlecht: 39 Massenschiessereien, bevor der Januar überhaupt um ist. Allein am Mondneujahr, als das Jahr des friedfertigen und diplomatischen Hasen begrüsst wurde, starben 18 Menschen.
Publiziert: 30.01.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 28.01.2023 um 15:19 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

Während der Nachrichtensprecher mit ernster Miene über eine Schiesserei berichtet, wird schon die nächste durchgeführt. Es hört nicht auf. Es wird immer schlimmer, immer mehr. In Texas werden rosa lackierte Gewehre als passende Geschenke für kleine Mädchen beworben, und in Virginia hat diesen Monat ein Sechsjähriger seine Lehrerin angeschossen. Die Kugel traf sie in der Brust, dem Himmel sei Dank, ohne sie zu töten. Die Eltern sprechen ihr Mitgefühl aus, sie können nichts dafür, sagen sie. Die Schusswaffe sei «sicher aufbewahrt» worden.

«Wo zum Teufel leben wir hier?», frage ich meinen Mann. Er erklärt mir, dass das vielbeschworene Recht eines jeden Amerikaners, Waffen zu tragen, ursprünglich nur als vorübergehende Notfallmassnahme während des Aufstands gegen die Engländer eingeführt worden sei. Das ist interessant. Aber eine Geschichtslektion hilft mir jetzt nicht weiter. Ich bin verzweifelt. Und ich ärgere mich masslos, wenn ich beziehungsweise mein Land von Waffenbefürwortern als gutes Beispiel bemüht werden. «Warum sollen wir die Gesetze ändern?», fragen sie. «Schaut euch doch die Schweiz an, da hat jeder eine Schusswaffe zu Hause, und es passiert nichts. Die Schweiz ist das sicherste Land der Welt!»

Das erinnert mich an meine erste Zeit hier, vor über zwanzig Jahren. Als mein kleiner Sohn einen Kindergartenfreund zum Spielen einlud und die Mutter erst nachfragte, ob wir Waffen zu Hause hätten, bevor sie das erlaubte.

Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography

«Ja, ähm, Wasserpistolen», gestand ich und machte mich schon auf eine erzieherische Ermahnung gefasst. Doch sie starrte mich nur an. «Ich meine, echte Schusswaffen», präzisierte sie. «Mein Mann sagt, alle Schweizer haben Schusswaffen zu Hause!»

Da war es an mir, sie anzustarren. Denn dasselbe hatte ich von den Amerikanern angenommen. «Pass auf, dass du dort nicht erschossen wirst», hatten mich Freunde nur halb im Scherz gewarnt.

Sind wir wirklich so viel besser? Klar: Jedes Land ist besser als Amerika, wenn es um sinnlose Gewalt geht. Jedes Land hat bessere, sprich strengere Waffengesetze. Ein einziges Schulmassaker in Schottland bewirkte eine radikale Verschärfung der entsprechenden Gesetze in Grossbritannien, sodass es bei diesem einen Massaker geblieben ist. Die Schweiz hingegen stand noch 2007 an zweiter Stelle in der traurigen Statistik der Todesfälle durch Schusswaffen. Allerdings machten nicht Massenschiessereien, sondern Suizide die Mehrheit dieser Fälle aus. Danach folgen Beziehungsdelikte beziehungsweise Familienmorde. Ein grauenhaftes Wort. Nicht alle, aber viele, zu viele dieser Delikte werden mit der Militärwaffe verübt. Genug jedenfalls, dass auch in der Schweiz eine Bewegung existiert, die versucht, diese abzuschaffen.

Ob diese Tragödien, diese Verbrechen verhindert werden könnten, wenn die Waffen nicht griffbereit zu Hause lägen? Experten streiten sich, vor allem, wenn es um Suizid geht. Und ich bin keine Expertin. Aber ich erinnere mich an den berührenden Theatermonolog von Brian Copeland. In «The Waiting Period» erzählt er, wie er sich an einem Tiefpunkt seiner Depression eine Waffe kaufte, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch während der zehntägigen Wartezeit, die in Kalifornien eingehalten werden muss, bevor man die Waffe nach Hause nehmen kann, veränderte sich etwas. Er beschloss, zu leben.

Was heisst das? Das weiss ich auch nicht. Ich weiss nur, dass jeder einzelne Schuss einer zu viel ist. Jeder Täter, jedes Opfer, jede Tote, jede Träne ist zu viel.

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