Milena Moser
Der Lockdown machte mich dünnhäutig

Dass die letzten Monate auch an mir nicht spurlos vorübergegangen sind, merkte ich vergangene Woche, als ich ganz uncharakteristisch und auf eher peinliche Weise die Nerven verlor. Aus vollkommen nichtigem Anlass auch noch.
Publiziert: 13.06.2020 um 13:07 Uhr
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Aktualisiert: 02.07.2020 um 10:44 Uhr
Milena Moser

Seit Wochen freute ich mich auf diesen Tag: Wir würden einen Ausflug machen! Der erste seit Monaten! Unser privater Lockdown hat ja schon im Januar mit Victors erster Herzoperation begonnen. Doch nun würden wir ins liebliche Napa Valley hinauffahren, wo uns Freunde zum Mittagessen eingeladen hatten. Das Restaurant würde sämtliche Sicherheitsbestimmungen einhalten, die hierzulande immer noch gelten. Nicht einmal Blumendekorationen auf den Tischen waren erlaubt. Wir würden weit auseinander platziert auf der Terrasse sitzen und die Masken nur zum Essen ablegen. Das Restaurant liegt etwa eineinhalb Stunden nördlich, zwischen sanfte Hügel und Weinberge eingebettet. Ich freute mich wie ein Kind auf die Fahrt. Im Weinland ist es ausserdem wärmer als im nebligen San Francisco, was bedeutete, dass ich eines meiner traurig im Schrank verkümmernden Sommerkleider anziehen konnte. Da mein Auto vor einiger Zeit den Geist aufgegeben hatte, würden wir mit Victors altem Truck fahren. Ich liebe die Fahrten in diesem Knattermobil. Es ist so alt, dass es noch ein Kassettenfach hat. Auf dem Rücksitz liegt eine Schachtel mit hüllenlosen Kassetten mit komplett verblichenen Aufschriften, mit der wir eine Art musikalisches Roulette spielen.

Doch dann sprang auch der treue Truck nicht an. Victor konnte sein Überbrückungskabel nicht finden, unsere Nachbarn waren auch überfordert und die Nummer des Pannendiensts ständig besetzt. Unsere Freunde waren im eigenen Auto losgefahren, auch das, um Victor und sein fehlendes Immunsystem so gut wie möglich zu schützen. Sie waren bereits an der Brücke, als ich sie anrief. Und dann passierte es: Ich begann zu zittern, konnte mich kaum verständlich ausdrücken und brach dann zu meinem eigenen Schrecken in Tränen aus.

Meine Freundin versuchte mich zu beruhigen, während ihr Mann auf den nächsten Parkplatz zusteuerte. Dabei stand ich neben mir und sah mir fassungslos zu. Es ist doch nur ein Auto, Moser. Im schlimmsten Fall verpasst du eine Einladung zum Mittagessen! Doch ich konnte nicht aufhören zu weinen. Meine Freundin blieb ruhig. Auch als eine Stunde verging und immer noch kein Pannendienst da war, sie mit ihrem Mann immer noch auf dem Parkplatz vor der Brücke wartete und sich das Zeitfenster, in dem das Restaurant zum Mittagessen geöffnet war, langsam schloss. Von Absagen und Verschieben wollte sie nichts hören: Sie hat ein Reisebüro und ist seit Monaten nur am Absagen und Verschieben. «Nichts ist unmöglich», ist ihr Motto. Und sie behielt recht: Natürlich erschien der Pannendienst irgendwann doch, und als das Überbrückungskabel nichts bewirkte, ersetzte er kurzerhand – und gegen ein paar Hundert Dollar – die ganze Batterie. Ich hatte mich wieder beruhigt, doch ich schämte mich für meinen Ausbruch. «Du bist auch nur ein Mensch», tröstete mich Victor. Stimmt, dachte ich. Es ist nicht nichts, was wir in den letzten Monaten erlebt haben. Machen wir uns da nichts vor. Seien wir ein bisschen geduldiger, ein bisschen grosszügiger. Miteinander, aber auch mit uns selbst.

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019

Und dann waren wir auf dem Weg. Ich legte wahllos eine Kassette ein, auf der ein zwanzig Jahre jüngerer Victor seinen Freunden Witze erzählte.

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