Milena Moser
Es ist doch nur ein Film

Nur ungern verlasse ich dieser Tage das Haus. Der giftige Rauch hat meinen Spaziergängen durch die Nachbarschaft ein vorläufiges Ende bereitet. Doch wenn ich es wage, werde ich belohnt. Wie gestern.
Publiziert: 05.09.2020 um 12:51 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2020 um 16:47 Uhr
Milena Moser

An der Ecke spricht mich ein älterer Herr an. Er sitzt auf einem der breiten Bänke vor dem Café, das gleichzeitig auch die Haltestelle des 24er-Busses ist. Er trägt eine knallige, grün-goldene Sportjacke über einem weissen Unterhemd, das man hierzulande charmant einen «wifebeater» nennt. Seine Augen schauen freundlich über den Maskenrand, als er mich um etwas Geld bittet, damit er sich etwas zum Mittagessen kaufen kann.

Beschämt und zu spät erinnere ich mich, dass ich genau aus diesem Grund schon lange vorhatte, einen Bankomaten aufzusuchen. Seit dem Ausbruch der Pandemie trage ich kein Bargeld mehr mit mir herum, in erster Linie, weil die meisten Geschäfte es nicht mehr annehmen. Doch die Bettler und Obdachlosen, von denen es in San Francisco rund 35'000 gibt, nehmen nun mal keine Kreditkarten. Dieser Mann trägt aber kein Hab und Gut bei sich, keine Decke, keinen warmen Mantel, wie man ihn hier auch im Sommer oder vor allem im Winter braucht.

«Ich habe leider kein Bargeld bei mir», sage ich also. «Aber ich würde Sie sehr gerne zum Mittagessen einladen.» Über seine Schulter hinweg nicke ich zum Café hinüber, wo es recht gute Sandwiches gibt, doch er schüttelt den Kopf.

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser

«Kennen Sie Toast?»

Ich kenne Toast, zwei Strassen weiter. Da gehen wir manchmal hin, wenn wir uns etwas Besonderes leisten.

«Die haben die besten Burger», sagt der Mann treuherzig – und wahrheitsgetreu. Und so ziehen wir zusammen los.

«Ich heisse Sam», stellt er sich mir vor. «Willkommen im Quartier. Wir sind glücklich, Sie unter uns zu wissen!» Förmlich und etwas hoheitsvoll. So als sei er der König des Quartiers. Und so winkt er auch nach rechts und links. Passanten grüssen zurück, was allerdings nicht unbedingt heisst, dass sie ihn auch kennen. Er wirkt ausgesucht höflich auf mich, aber auch etwas verwirrt. Ich frage mich, ob er im Altersheim oben an der Strasse wohnt.

«Kingsize», murmelt er immer wieder vor sich hin. «Kingsize!» Als dürfe er das ja nicht vergessen.

Seit der giftige Rauch der Waldbrände die Luft verpestet, ist niemand mehr ohne Maske unterwegs. Zum eigenen Schutz geht das offenbar durchaus. Ich nehme die verschalten Fensterfronten wahr, die leer stehenden Gebäude, die «Zu vermieten»-Schilder. Es werden jede Woche mehr. Toast allerdings läuft immer noch gut, vor dem Bestellfenster hat sich bereits eine kurze Schlange gebildet.

Als wir vorrücken, räuspert sich Sam. «Und – könnte ich eventuell auch etwas zu Trinken bestellen?», fragt er schüchtern.

«Natürlich.» Toast schenkt auch Wein und Bier aus, doch Sam will nur eine Cola.

Die Kellnerin reicht mir ungefragt auch ein Glas. «Geht aufs Haus. Weil Sie so nett sind.» Das beschämt mich nun. So eine grosse Geste ist es nicht, jemandem einen Burger zu bezahlen. Während wir warten, erzählt mir Sam, dass er kürzlich einen Film gesehen habe, der ihm Angst machte. Immer wieder nickt er. «Grosse Angst, sehr grosse Angst!»

«Ich kann mir solche Filme gar nicht mehr anschauen», sage ich. «Mir macht die Realität im Moment schon genug Angst!» Die Pandemie, die Politik, die Waldbrände, Victors Gesundheit … Manchmal schlägt die Angst über mir zusammen wie eine Welle.

Doch Sam nimmt tröstend meine beiden Hände in seine. «Oh honey», sagt er. «Schon gut, schon gut. Es ist doch nur ein Film!»

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