Milena Moser
Im Oktoberwahn

Anfang Oktober. Der Herbst lässt sich nicht mehr verleugnen. Die Nebeldecke senkt sich auf die Seelen, die Therapielampen werden angezündet. Marroni rösten über dem Feuer, die Blätter rascheln unter den Sohlen, endlich kann man wieder Stiefel tragen.
Publiziert: 10.10.2020 um 14:12 Uhr
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Aktualisiert: 11.10.2020 um 19:02 Uhr
Milena Moser

Für mich heisst Anfang Oktober: Es ist wieder Zeit, in die Latzhosen zu steigen. Zum siebten Mal helfe ich Victor bei seiner jährlichen Installation zum Día de los Muertos, dem mexikanischen Tag der Toten. Seit über zwanzig Jahren findet in San Francisco zu diesem Anlass eine Gruppenausstellung statt. Victor bestreitet wie immer den grossen, zentralen Altar gleich am Eingang. Ein drei bis vier Meter hohes Gerüst wird mit bunten Scherenschnitten und traditionellen Mustern beklebt und von innen mit Neonröhren beleuchtet.

In den Wochen vor der Ausstellung lasse ich alles andere liegen. Ich verschreibe mich ganz dem Projekt. Wir arbeiten bis zum Umfallen und darüber hinaus. Jeden Tag gehen hundert Dinge schief, und hundert neue Ideen wachsen aus den Scherben der Pläne von gestern. Und irgendwie werden wir immer fertig, auch wenn wir zwischendurch daran gezweifelt haben.

Kunst lässt sich nicht programmieren

Der künstlerische Prozess, das weiss ich ja aus eigener Erfahrung, lässt sich nicht planen, programmieren oder gar kontrollieren. Doch beim Schreiben kann einem niemand helfen. Eine grosse Installation wie diese hingegen braucht viele Hände und Arme, Muskeln und Werkzeuge.

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser

Als ich Victor das erste Mal dabei half, beschränkte sich meine handwerkliche Erfahrung auf das Auspacken und Ausbreiten von Ikea-Einzelteilen und dem verzweifelten Um-Hilfe-Telefonieren. Ich konnte kaum einen Hammer von einer Zange unterscheiden, ich war ungeschickt und «nicht gut mit den Händen». Vor allem aber hatte ich Angst, etwas falsch zu machen. Etwas zu ruinieren. Das alles beeindruckte Victor nicht. «Es ist Volkskunst», beruhigte er mich. «Es soll gar nicht perfekt sein.» Dann erzählte er mir von seiner Grossmutter und seiner Grosstante, bei denen er aufgewachsen war. Sie trugen traditionelle Schürzen mit vielen Taschen, und in jeder steckte eine Schere, ein Messer, eine kleine Zange. «Diese Frauen dachten nicht über Kunst nach», sagt Victor. «Sie sahen etwas, eine Büroklammer, einen Korkzapfen, Wollreste und sahen ein Spielzeug, ein Heiligenbild, einen Talisman. Sie bastelten ständig etwas, ihre Hände waren ständig in Bewegung.» Von ihnen hat Victor gelernt. Und ich lerne von ihm.

Ich kann mit der Nagelpistole fast so gut wie mit Bleistift

Diese Arbeit hat mir ein Fenster zu einer Welt geöffnet, die ich nicht kannte. Und damit meine ich nicht nur die mexikanische Kultur, sondern ganz einfach das Arbeiten mit den Händen. Die Befriedigung, wenn etwas fertig ist. Wenn es funktioniert. Das geht über die jährliche Kunstinstallation hinaus. Unterdessen sind mir Nagelpistole und Kreissäge so vertraut wie Bleistift und Papier. Und darauf, dass ich eine Toilette installieren kann, bin ich ebenso stolz wie auf meine Bücher. Vielleicht noch mehr: Weil ich keine Ahnung hatte, dass ich das konnte. Oder lernen konnte.

Heute übertragen wir traditionelle toltekische Symbole auf Seidenpapier. Sie sind nicht einfach zu erkennen: Die Schlange zum Beispiel wurde in ihre Einzelteile zerlegt, von der Ringelblume ist nur die Samenkapsel abgebildet. Die geometrisch angeordneten Streifen stellen einen Schmetterling. «Was bedeutet der?», frage ich, während ich sorgfältig den Linien nachfahre. Victor schaut auf.

«Ein Leben nach dem anderen ...»

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