Milena Moser
Solche wie ich

Wer reist, wird mit sich selbst konfrontiert. In der Fremde lernt man sich selbst besser kennen. Das ist mir erst kürzlich wieder bewusst geworden. Allerdings war die Fremde diesmal meine Heimat.
Publiziert: 24.04.2023 um 07:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.04.2023 um 19:23 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

Fast hätten wir unsere Haltestelle verpasst. Ich war mit meiner Lieblingsnichte unterwegs, die ich lange nicht gesehen hatte. Die Zugfahrt von Zürich nach Thun BE hatte nicht für alles gereicht, und so redeten wir im Postauto dem Seeufer entlang fahrend weiter. Wir sassen direkt hinter dem Chauffeur und hatten die automatische Anzeige der Haltestellen vor Augen. Trotzdem hielt der Bus schon, als wir das Hotel auf der anderen Strassenseite entdeckten. Wir sprangen auf, griffen nach unseren Reisetaschen. Doch der Weg zur Tür war von einer Schranke versperrt. «Tschuldigung!», riefen wir. Doch der Fahrer stellte sich taub.

Ich war verwirrt – musste man denn nicht vorne aussteigen? Oder war es genau umgekehrt? «Heimat ist dort, wo du weisst, wo du dein Busbillett kaufst und wo du einsteigst», hatte mir eine Freundin einmal erklärt. Es hatte mir sofort eingeleuchtet und fiel mir immer wieder ein. Es war mein Massstab dafür, ob ich mich an einem fremden Ort bereits eingelebt hatte. Ob ich mich zurechtfand. Es gab eine Zeit, in der ich das Pariser Metronetz im Kopf gespeichert hatte. In San Francisco erkenne ich am Klingeln des J-Trains, ob ich noch genug Zeit habe, zur Haltestelle an der Ecke laufen. Zu Hause bin ich, wenn ich über diese Dinge nicht nachdenken muss.

Heisst das nun, dass ich in der Schweiz nicht mehr zu Hause bin? Oder nur nicht am Thunersee?

Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography

Das Postauto schnaufte und ruckelte. Gleich würde es weiterfahren. Da erbarmte sich eine andere Passagierin, zog mich am Arm zur hinteren Tür und stieg mit mir aus. Meine Nichte folgte im letzten Moment, die Türen schlossen sich so knapp hinter ihr, dass sie ihre Tasche einklemmte und sie sich mit einem Ruck befreien musste.

Die Frau schaute mich streng an: «Ja, wissen Sie denn nicht, dass Sie hinten aussteigen müssen?»

Ich schüttelte den Kopf. Kaum war ich in der Schweiz, machte ich schon wieder etwas falsch! Daran habe ich mich zwar gewöhnt, aber es schlägt mir trotzdem aufs Gemüt. Das musste in meinem Gesicht zu lesen sein, denn die Frau wurde etwas freundlicher. «Manchmal, wenn er gute Laune hat, macht er vorne schon auf», sagte sie. «Aber wenn, dann nur für Eingeborene, nicht für solche wie Sie!»

Eingeborene. Das Wort hört man nicht mehr oft, es hat einen unguten Beigeschmack. Vermutlich meinte sie Einheimische. Nicht zwingend die, die an der Postautostrecke geboren waren, sondern die hier wohnen. Doch wie lange muss man hier heimisch sein, um als einheimisch zu gelten? Zehn, zwanzig, hundert Jahre?

Ich erinnerte mich an einen Workshop mit einem amerikanischen Yogalehrer. Der Mann hatte uns während der obligaten Vorstellungsrunde zunehmend verwirrt angeschaut. Weil wir alle so genau erklärten, wo wir herkamen und wo wir jetzt wohnten und was das für einen Unterschied machte. Auch wenn diese Orte gar nicht so weit auseinanderlagen. Ich versuchte ihm damals zu erklären, dass die Schweiz zwar ein kleines, aber keinesfalls homogenes Land ist. Dass wir nicht nur vier Sprachen haben, sondern dass sich unser Dialekt tatsächlich von Ort zu Ort verändert und dass man deshalb nach wenigen Kilometern schon als fremder Fötzel wahrgenommen wird.

Es ist also gut möglich, dass mich meine Zürischnurre verraten hat, dass mein Fremdsein gar nichts mit dem Auswandern zu tun hat. Meine Nichte hatte eine pragmatischere Erklärung: Der Bus hält direkt vor dem Hotel. Wo sich solche wie ich sofort zu Hause fühlen.

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