Milena Moser
Trotz allem

Den amerikanischen Nationalfeiertag begingen wir mit Kalbsbratwürsten – «Swiss Style Bockwurst» – und Merguez, mit mexikanischer Salsa, amerikanischem Rotkohlsalat und einem französischen Schokoladenkuchen. Am Tisch sassen drei Eingewanderte und eine Amerikanerin.
Publiziert: 10.07.2023 um 09:14 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

In anderen Jahren hat Victor die Würste noch selbst ge-… Was? Gewurstet? Und wir haben eigentlich immer eine Party geschmissen. Der Nationalfeiertag bedeutet uns mehr als unseren amerikanischen Freunden, wir haben uns dieses Land schliesslich ausgesucht.

Auch wenn ich diese Entscheidung sehr viel freiwilliger treffen konnte als Victor: Hier sind wir, in guten wie in schlechten Tagen, und das feiern wir. Doch es lässt sich nicht leugnen: Die zunehmende Bedrohung, die von der republikanischen Partei ausgeht, betrifft uns auch. Die Stimmung ist beklemmend. Die vorsichtige Hoffnung, die wir vor zwei Jahren noch verspürten, hat sich zerschlagen.

«Ich feiere doch kein Land, das mir meine Grundrechte abspricht», sagen viele Freundinnen. Nach den Frauenrechten werden nun die Rechte der LGBTQ+-Gemeinde beschnitten. Wer arm ist, und das sind die meisten Künstler, hat hier ohnehin nichts zu melden. Und damit ist mein Freundeskreis, mein wunderbares Beziehungsnetz, so ziemlich abgedeckt – oder eben nicht. Ich kenne niemanden mehr, der sich nicht bedroht fühlt.

Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography

Und trotzdem, und doch. Eine Freundin muss nicht zur Arbeit, eine andere ist gerade aus Deutschland zurückgekommen, und so sitzen wir an diesem vierten Juli wieder auf unserer Terrasse. Wir drängen uns um den Grill, in Daunenjacken gehüllt, um dem kalten Küstenwind zu trotzen, dem Sommernebel, der Jahr für Jahr zuverlässig das Leuchten der Feuerwerke verschluckt. Nur das Geballer ist zu hören und das verzweifelte Jaulen der Hunde unserer Nachbarn.

Wir reden über all die Dinge, die einem die Laune verderben: Politik und Korruption, Obdachlosigkeit, Klimawandel und das Gesundheitssystem. Wir reden über Amerika. Wir sagen aber auch das: «Ich fühle mich sofort leichter, wenn ich hier ankomme.» «Hier kann ich einfach ich selbst sein.» So lahm das klingen mag, angesichts der politischen Lage, so privilegiert: Wahr ist es trotzdem.

Dann rettet Victor, einmal mehr, die Stimmung, kurz bevor sie ganz abrutscht. «Ich werde den vierten Juli immer feiern», sagt er. «Ich werde diesem Land immer dankbar sein.» Ich stutze, denn so gut behandelt ihn dieses Land nun auch wieder nicht. Er nickt: «Amerika hat mir das Leben gerettet.»

Ende der Achtzigerjahre erklärte die mexikanische Regierung alle Angehörige indigener Gruppierungen zu Staatsfeinden. Befreundete Förster, die als Staatsangestellte Einblick in die sogenannte schwarze Liste hatten, warnten Victor. Seine Verhaftung stand bevor, und er hatte schon einmal mehrere Tage Folter überstanden. Nur, weil sein Name mit Z beginnt, also am Ende der Liste stand, hatte er Zeit, zu fliehen. Doch als er am Flughafen ankam, verweigerten die Passbeamten ihm die Ausreise. Sie hatten einen Verhaftungsbefehl.

Da kamen zwei blonde Engel, zwei Flugbegleiterinnen einer grossen amerikanischen Airline, auf ihn zu. Sie packten ihn rechts und links an den Ellbogen und erklärten dem verdatterten Beamten, sie hätten bereits auf Victor gewartet und müssten ihn nun sofort mitnehmen. Sie bleckten ihre blendend weissen Zähne, und Victor war in Sicherheit. So haben die Fluggesellschaften unzählige Leben gerettet.

«Danke», sagt die amerikanische Freundin. «Das tut gut, zu hören.»

Dieses Amerika gibt es nicht mehr. Aber es hat es einmal gegeben, und es kann es wieder
geben.


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