Milena Moser über die Bedeutung von «Normal-Sein»
Ganz normal verrückt

Oder ganz verrückt normal? Was bedeutet das überhaupt, normal? Die Antwort hängt ganz davon ab, wen man fragt. Normal ist relativ. Aber manchmal heisst es auch einfach nur: gesund.
Publiziert: 20.05.2024 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.05.2024 um 15:00 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

«Ich mag J», sage ich, als ich von einem Abendessen mit Freundinnen nach Hause komme. Und Victor: «Ich mag sie auch, sie ist so normal.» Da muss ich lachen, denn genau darüber haben wir den ganzen Abend lang geredet. Was normal ist und ob wir uns normal fühlen oder eben nicht. (Nicht.)

Victor findet dich normal, tippe ich in mein Telefon. Einen Moment lang fühle ich mich wieder wie mit zwölf oder dreizehn, wenn ich von einem Treffen mit einer Freundin nach Hause kam und sie sofort anrufen musste, weil mir eben noch etwas ganz Wichtiges eingefallen war. Damals musste ich den Apparat nicht nur erobern, sondern auch so weit, wie es das Spiralkabel erlaubte, vom Rest der Familie entfernen. Meist schloss ich mich damit im Badezimmer ein, bis meine Mutter entnervt an die Tür hämmerte: «Was habt ihr denn jetzt noch zu reden, ihr habt euch doch eben erst gesehen!» 

Hahahaha, antwortet J. Und dann: Naja, von Victor heisst das allerdings nicht viel. Darunter setzt sie eine Reihe lustiger Emojis, damit ich es nicht persönlich nehme. Aber ich weiss ja, wie sie es meint.

Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt für Blick über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen».
Foto: Barak Shrama Photography
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An diesem Abend haben wir diverse Definitionen von «normal» diskutiert und ausprobiert. Normal ist so, wie wir es kennen, wie wir es gewohnt sind. Normal ist das, worüber wir nicht nachdenken. Normal ist das Vertraute. Normal ist so, wie die Mehrheit halt. 

Wie relativ selbst diese schwammigen Auslegungen sind, ist uns auch klar. Nicht nur, weil wir ja nicht erst seit gestern durch dieses Leben stolpern. Sondern auch, weil wir alle aus unterschiedlichen Ländern stammen, von unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Lebensmitteln, Kinderbüchern und Familienformen geprägt wurden. Aber J meinte etwas ganz Spezifisches. Sie meinte normal im altmodischen, ursprünglichen Sinn von «nicht verrückt», oder weniger salopp ausgedrückt: psychisch gesund. Sie kämpft seit mehreren Jahren mit Angstzuständen und Depressionen, mit Diagnosen, Medikamenten und Therapien. Sie ist phasenweise arbeitsunfähig, und Abende wie dieser, im kleinen Kreis, mit alten Freundinnen, sind nicht immer möglich. Wenn sie sagt: «Ich wünschte, ich wäre normal», dann meint sie: «Ich wünschte, ich wäre gesund.» 

Und deshalb ist auch ihr Spruch über Victor nicht aus der Luft gegriffen, denn auch er stösst diesen Seufzer manchmal aus. Wenn er sich hinsetzt, um seine 18 verschiedenen Medikamente in Tagesdosen zu sortieren, morgens nur zwei von den Roten, abends dafür drei, die Blau-Gelben nur jeden zweiten Tag ... Das nimmt jedes Mal Stunden in Anspruch. Und Victor, der sich sonst nie beklagt, seufzt: «Ich hasse das. Ich wünschte, ich wäre normal.»

Doch im Unterschied zu Victor schämt sich J ihrer Erkrankung. Obwohl sie intellektuell weiss, dass ihre Symptome dieselbe Berechtigung haben wie die der asthmakranken Kollegin. Dass sie ebenso wenig selbstverschuldet sind, dass sie sich ebenso wenig «am Riemen reissen» kann. 

Auf ihrem Sofatisch liegt denn auch die dicke, gelb-rote Bibel «Vom Mythos des Normalen» von Dr. Gabor Maté, der sehr klar und eindringlich aufzeigt, dass es in der heutigen Zeit, in der westlichen Gesellschaft fast unmöglich ist, «normal» im Sinn von gesund zu sein, von nicht angeschlagen, nicht betroffen, nicht erschüttert. Immer mehr Menschen sind von psychischen Störungen und Erkrankungen betroffen, und es wird auch immer offener darüber geredet. J ist nicht allein, auch das weiss sie. Doch wenn «normal» ein Mythos ist, dann ist es eben auch ein Traum. Es wäre manchmal einfach schön ...

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