Milena Moser über die Schmerzen von geliebten Menschen
Die Schmerzen der anderen

Was ist schlimmer? Selber an Schmerzen zu leiden oder hilflos mitansehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch unter Schmerzen leidet? Oder ist das Schlimmste vielleicht, sich diese Frage überhaupt stellen zu müssen?
Publiziert: 08.03.2020 um 15:13 Uhr
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Aktualisiert: 25.03.2020 um 10:49 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow

Ich sehe ihn jetzt noch durch die Luft segeln wie in Zeitlupe: mein damals fünfjähriger Sohn, der mir vorführen wollte, was er an diesem Morgen in der Skischule gelernt hatte. Wieder und wieder flog er über die harmlose, kleine Schanze, laut juchzend. Zweimal hatte ich schon gesagt, es sei langsam Zeit fürs Mittagessen. «Nur noch einmal, Mama, nur noch einmal!»

Es kam, wie es kommen musste. Bei diesem letzten einen Mal kreuzten sich die Ski in der Luft, und ich wusste, bevor er im Schnee lag, dass das nicht gut gehen konnte. Schliesslich habe ich als Kind selber beide Beine gebrochen, auch auf einem sogenannten Idiotenhügel. Wenn die Bindungen nicht aufgehen, ist es egal, wie flach oder steil die Piste ist.

Meine amerikanischen Freunde sind immer schockiert, wenn ich beiläufig erwähne, dass gebrochene Knochen sozusagen zu den Übergangsritualen einer Schweizer Kindheit gehören. Wenn ich dann noch den Samichlaus und den Schmutzli zu erklären versuche, kann ich förmlich hören, wie ihre Illusionen auf dem Fussboden zerschellen.

Mein Sohn wurde also erst auf einen Rettungsschlitten und dann in eine Ambulanz geladen und in die nahe Sportklinik transportiert. Ich blieb bei ihm, bis er in den Untersuchungsraum geschoben wurde, wo er auch gleich geröntgt und behandelt werden sollte. Dass das Bein gebrochen war, war allen klar. So tigerte ich also gefühlte hundert Jahre lang vor der verschlossenen Türe auf und ab, hinter der ich meinen Sohn herzzerreissend weinen und einmal aufschreien hörte. Ich merkte nicht, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen und meine Fingernägel halbmondförmige blutende Abdrücke in meinen Handflächen hinterliessen.

«Deshalb lassen wir Mütter nicht in den Behandlungsraum», kommentierte die Pflegefachfrau trocken, als sie endlich wieder herauskam. Nicht ohne Stolz drückte sie mir seine ordentlich gefalteten Kleider in die Hand. Skihose, Strumpfhose, lange Unterhose. «Alles noch ganz», sagte sie in einem Ton, als erwartete sie ein Lob dafür. «Wir haben nichts zerschnitten!»

Dass ich sie da nicht auf der Stelle mit der Kinderstrumpfhose erwürgt habe, rechne ich mir heute noch hoch an. «Du kannst das, Moser. Reiss dich zusammen», sage ich mir also auch heute. Ich grabe meine Fingernägel in die Handflächen, ich wandere in der Notaufnahme auf und ab wie damals in der Sportklinik, hilflos, verzweifelt. Und ich weiss genau, was das Schlimmste ist: Das.

Doch als die Infusion endlich zu wirken beginnt, widerspricht mir Victor: «Das Schlimmste ist, mitanzusehen, was die eigenen Schmerzen beim anderen anrichten.» Einen Augenblick lang starren wir gemeinsam in diesen Abgrund, dann wenden wir uns mit einem Ruck ab. «Wie geht es Ihnen?», fragt er den nächsten Pfleger, der an sein Bett tritt. Und während wir verwundert zuhören, was es heutzutage bedeutet, eine Geburtstagsparty für einen Zweijährigen zu organisieren, fangen wir langsam wieder an zu atmen.

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