Milena Moser über die Taxis der Zukunft
Fahrerlos, futuristisch, einsam unterwegs

Hier sieht man sie überall: kleine, weisse, wie von Kinderhand gezeichnete Autos, mit sich drehenden Kameras bestückt und ganz leer. Die Touristen sind begeistert von diesen fahrerlosen Taxis, die Einwohner eher weniger.
Publiziert: 15.09.2024 um 10:18 Uhr

Kurz zusammengefasst

  • Künstliche Intelligenz ersetzt menschliche Begegnungen und Gespräche
  • San Francisco war einst die Stadt der Freigeister und Künstler
  • Vivek Murthy nennt Einsamkeit eine Epidemie, die jüngere Menschen betrifft
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Neulich war eine Bekannte aus der Schweiz zu Besuch, die gleich als Erstes mit so einem Ding fahren wollte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, davon zu schwärmen. Ich verkniff mir alle gehässigen Bemerkungen, denn wer bin ich, um jemand anderem die Freude zu verderben. Aber eine Frage konnte ich mir nicht verkneifen: «Hast du denn nichts vermisst?»

Ich dachte dabei an all die Begegnungen und Gespräche, die auf den Rücksitzen von Taxis und später von Fahrdiensten stattgefunden haben. An die emotionsgeladenen Fahrten zum Krankenhaus oder vom Krankenhaus zurück nach Hause. An all die Fahrer, die Victor die Treppe hochgeholfen haben. An die junge Frau, die mich frühmorgens noch im Dunkeln zu meinem Interview mit der Einwanderungsbehörde gefahren und den ganzen Weg lang getröstet und beruhigt hat. An den Fahrer aus Eritrea, der mir anhand der Geschichte seines eigenen Landes eine Lektion in Kolonialismus gab.

Ich dachte an Anna aus Santa Fe, die auf dem Rücksitz eines Ubers weinte, weil ihre Tochter in der Schule gemobbt wurde und die einzige Wohnung, die sie sich leisten konnte, in einem gefährlichen Stadtteil lag, wo jede Nacht Sirenen heulten. Der Fahrer riet ihr, nach Los Alamos zu ziehen, wo es zahlbare Wohnungen und gute öffentliche Schulen gab. «Wir haben heute noch Kontakt, er hat mein ganzes Leben verändert», sagt sie.

Heute ist San Francisco vor allem die Stadt der künstlichen Intelligenz, wie fahrerlose Taxis zeigen.
Foto: IMAGO/Achille Abboud
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Meine Bekannte gab zu, dass die Fahrt im Auto der Zukunft nicht etwa billiger gewesen sei. Und dass sie sich schon frage, wer das Geld, das die Fahrerinnen verdient hätten, jetzt bekomme. Irgendein Internet-Milliardär? Oder die Stadtregierung, die immer mehr dieser Fahrzeuge bewilligt, obwohl sie ständig den Verkehr aufhalten, Rettungsfahrzeuge und Busse blockieren und sogar Unfälle verursachen? «San Francisco ist die Stadt der künstlichen Intelligenz», verkündete unsere Stadtpräsidentin kürzlich voller Stolz.

Wie naiv ich doch bin! Ich dachte immer, es seien die Menschen, die eine Stadt ausmachen, ihre Atmosphäre, ihr Flair. San Francisco war einmal die Stadt der Freigeister, der Andersdenker, der Hippies, der Künstler, der Aktivisten. Nicht der KI. Und ein trotziger Teil von mir weigert sich immer noch, das einfach so zu akzeptieren. Geschweige denn eine Welt ohne philosophische Gespräche auf dem Rücksitz eines Fahrdienstes. Eine Welt ohne Begegnungen. Ohne Austausch. Der Vorsteher des amerikanischen Gesundheitswesens, Vivek Murthy, bezeichnet die Einsamkeit als eine «Krise, eine Epidemie», die immer mehr auch jüngere Menschen betrifft. «Unsere sozialen Muskeln verkümmern, wenn wir sie nicht brauchen», sagte er in einem Interview.

Wir trainieren diese Muskeln eben nicht nur in der Familie oder in unseren Freundschaften, sondern genau in diesen kurzen, zufälligen Begegnungen und Gesprächen im Alltag. Wenn ich mit meinem Nachbarn ein paar Worte wechsle, mich bücke, um seinen Hund zu streicheln. Wenn sich die Kellnerin im Café nach Victors Gesundheit erkundigt. Wenn ich im Eckladen mit dem Besitzer Enkelbilder vergleiche. Wenn ich mit der Taxifahrerin über mein fehlerhaftes Spanisch lache, nachdem ich ihr offenbar gesagt habe, ich sei schwanger, und nicht, wie ich glaubte, es sei mir peinlich. Dann habe ich das Gefühl, dazuzugehören. Teil eines Ganzen zu sein. Ein bunter Faden im Gewebe. Welche KI kann mir das ersetzen?

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