Milena Moser
Unsere Windmühlen

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sagt man. Doch wenn man mit dem amerikanischen Gesundheitssystem kämpft, ist das ein schwieriger Ansatz. Man darf sich nicht unterkriegen und auffressen lassen. Schlussendlich ist es unsere gemeinsame Zeit, unser Leben.
Publiziert: 27.03.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 27.03.2023 um 09:43 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

Der Kampf gegen die Windmühlen des amerikanischen Gesundheitssystems lässt mich manchmal schier verzweifeln. Naturgemäss müssen wir ja ihn immer dann führen, wenn unsere Nerven ohnehin schon blank liegen. Doch ich lerne, mich nicht in ihm zu verlieren.

Es ist keine gute Geschichte. Sie folgt keiner inneren Logik, sie ist verworren, konfus und schwer nachvollziehbar. «Das ergibt doch keinen Sinn!», ist denn auch die häufigste Reaktion. Nein, tut es nicht.

Vor etwa 18 Monaten wurde bei Victor grauer Star festgestellt. Eine ganz normale Alterserscheinung, was niemand gerne hört. Doch für jemanden, der so lange und so schwer krank war wie Victor, ist eine Alterserscheinung keine Zumutung, sondern ein unverhofftes Privileg. Endlich mal ein Befund, der nichts Schlimmes bedeutet, nichts Lebensbedrohendes. Etwas, das mit einem Routineeingriff behoben werden kann.

Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography

So einfach war es dann nicht. Natürlich nicht. Bevor man den grauen Star behandeln konnte, mussten Wucherungen entfernt werden, die als Nebenwirkung der Transplantationsmedikamente entstanden waren. Darunter fand sich ein gut versteckter, seltener Krebs. Darauf folgten mehrere Monate Chemotherapie, und kaum war diese beendet, wachte Victor mit einer einseitigen Gesichtslähmung auf, die dazu führte, dass er das andere Auge mehrere Monate lang nicht schliessen konnte. Doch endlich war alles überstanden, und der letzte Operationstermin konnte festgelegt werden. Wir feierten schon im Voraus, malten uns aus, was bald alles wieder möglich wäre, wenn Victor endlich wieder gut sehen konnte. Damit haben wir wohl das Schicksal versucht.

Die Operation wurde abgesagt. Im letzten Moment. Erst hiess es, die Krankenkasse habe die Bewilligung zurückgezogen. Dann, das Krankenhaus arbeite nicht mehr mit der Krankenkasse zusammen. Dann hing der Fall bei der Koordinatorin fest. Und dann fing der ganze Reigen wieder von vorne an. Seit fünf oder sechs Wochen geht das jetzt so. Wochen, die wir, oder vor allem Victor, am Telefon verbringen, in Warteschlaufen, und Mailketten. Wir liefern Dokumente selber aus, wir rennen eine Wand ein und stehen bei der nächsten wieder an. Anfangs konnte ich Tag und Nacht an nichts anderes denken und auch nicht über etwas anderes reden. Ich machte meiner Wut Luft, ich entwickelte Strategien, griff nach Strohhalmen. Bis Victor mich recht scharf zurechtwies. «Hör auf damit», sagte er. «Das hilft nichts. Das ist verpuffte Energie.» Er nahm oft nicht einmal mehr das Telefon ab, wenn besorgte Freunde anriefen. Mit der gleichen Begründung: «Ich mag nicht ständig darüber reden. Es nimmt ohnehin zu viel Platz ein.»

Von da an gab es kein Zetern, Schimpfen und Jammern mehr. Nur kurze, sachliche Lagebestimmungen. Ich gebe zu, mir fiel das erst mal schwer. Meine Gedanken kreisten um nichts anderes. Doch ich verstand, dass es uns auffressen würde, uns, unseren Alltag, unsere Arbeit, unsere gemeinsame Zeit. Unser Glück. Victor ist ein Veteran dieses Kampfes, er kämpft ihn seit über zwanzig Jahren. Er hat Strategien entwickelt, entwickeln müssen, um die Lebenslust nicht zu verlieren, um weiterhin arbeiten zu können. Den Vergleich mit den Windmühlen findet er deshalb falsch. «Ich bin kein Don Quijote», sagt er. «Ich kämpfe gegen etwas sehr Reales.» Und er weigert sich, sich in diesem Kampf aufzulösen. Nach und nach gelingt es auch mir, an anderes zu denken, über etwas anderes zu reden. Zu arbeiten. Zu kochen, zu essen, zu lachen. Zu leben. Und zu hoffen.

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