Schriftsteller Lukas Bärfuss über die Dämonisierung der Menschheit
Die Natur ist eine Rabenmutter

Die Erkenntnis des Uno-Biodiversitäts­berichts ist fundamental: Die Menschheit verdrängt alles andere Leben. Doch statt einfach ­Lösungen auf­zuzeigen, dämonisieren die Experten den Menschen. Ein ­fataler Fehler, findet ­Lukas Bärfuss.
Publiziert: 12.05.2019 um 11:42 Uhr
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Aktualisiert: 13.05.2019 um 08:10 Uhr
Die Natur kenne keine Harmonie, sagt Lukas Bärfuss.
Foto: Philippe Rossier
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Lukas Bärfuss

Am Montag, dem 7. Mai, ­gegen 13 Uhr wurde am Radio die kommende Katastrophe verkündet, die endgültige und unwiderrufliche Zerstörung unserer natürlichen Lebens­grundlagen. Mir und vielen anderen in der Schweiz überbrachte das Radio die traurige Botschaft. Eine Biologin und ein Geograf erläuterten in den Mittagsnachrichten die Resultate des ersten Weltbiodiversitätsberichts, eine ­Bestandsaufnahme, die von 137 Ländern in Auftrag gegeben worden war und an jenem Tag in Paris der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Die Ergebnisse sind niederschmetternd: Eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Ein Drittel aller Meeresfisch­bestände überfischt. Die Aussterberate um einen Faktor zehn bis hundert erhöht. Drei Viertel der Landoberfläche und zwei Drittel der Wasseroberfläche durch den Menschen erheblich verändert. Ein Drittel der weltweiten Landoberfläche wird für die landwirtschaftliche Produktion benutzt, und so weiter und so fort. Die Liste der Hiobsbotschaften wollte kein Ende nehmen.

Die Biologin klang dabei so resigniert wie eine Ärztin, die ihrem Patienten die fatale Diagnose überbringt und gleichzeitig weiss, wie wenig ihn dies kümmern wird. Weil er erstens weiss, dass es für eine Heilung ohnehin zu spät ist, um noch etwas zu ändern, und weil er zweitens, selbst wenn er durch eine Änderung seiner Lebensweise sein Schicksal abwenden könnte, nicht dazu in der Lage wäre. Denn ­etwas gegen diese Entwicklung könne man nicht unternehmen, meinte die Wissenschaftlerin. Die Kommission habe vier Szenarien entwickelt, und selbst das hoffnungsvollste, das 
heisst unwahrscheinlichste, werde den ­Abstieg nicht aufhalten können.

Wissenschaft macht Gegensatz zwischen Natur und Mensch

Ich mochte mich dieser Verzweiflung nicht hingeben und schaute mir den Bericht genauer an. Leider diente die vertiefte Information nicht der Beruhigung meiner Nerven. Dazu war die ­Diagnose zu fundiert, die Zahl der verwendeten Quellen zu gross. Die Resultate genügten allen wissenschaftlichen Ansprüchen. Die Diagnose, so traurig sie sein mochte, war allerdings nicht das Problem; Grund für die Resignation waren die Therapievorschläge, wie dieser Entwicklung zu begegnen sei. Im Anhang fand sich ein Diagramm, das die wesentlichen Elemente darstellte, die notwendig seien, um die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung zu ­erreichen. Zuoberst in einem Kasten stand da auf Englisch: «Living-well 
in balance and harmony with Mother Earth.»

Es schien mir seltsam, in einem wissenschaftlichen Papier den Begriff «Mutter Erde» zu finden. Und warum machten diese Wissenschaftler einen Gegensatz zwischen der Natur und dem Menschen? Sind wir nicht ein Teil von ihr? Schliesslich hat diese Natur auch das menschliche Leben hervor­gebracht. Die Evolution hat uns mit ­Eigenschaften ausgestattet, die uns äusserst erfolgreich machten, denn sonst hätten wir uns kaum in sämtliche Lebensräume ausgebreitet, hätten ­wir uns nicht in dieser Geschwindigkeit vermehrt und alleine in den letzten fünfzig Jahren unsere Population verdoppelt. Unter diesem Erfolg haben alle anderen Arten ohne Zweifel gelitten, aber deswegen haben wir Menschen gegen kein natürliches Gesetz verstossen.

Der Pessimismus, die ­Resignation, der verbreitete Fatalismus – all dies liegt auch daran, dass die ­Natur mit einer «Harmonie» und ­einem «Gleichgewicht» in Verbindung ­gebracht wird. Wir Menschen sind im ­Gegensatz dazu jene Spezies, die ­diese natürliche Ordnung durcheinanderbringt. Und genau diese Metaphorik verhindert die Entwicklung einer konstruktiven Lösungsstrategie. Die Natur kennt keine Harmonie, ihre Gesetze sind unerbittlich: Der Starke überlebt, das Schwache wird ausgemerzt. Der Kranke kann nicht auf Pflege hoffen, er wird augenblicklich zum Futter seiner Feinde. Jeden Augenblick herrscht der Kampf ums Überleben.

Der Mensch wehrte sich gegen brutale Gesetze der Natur

Oder ist es harmonisch, wenn ein Löwenmännchen ein fremdes Rudel übernimmt und sämtliche Jungtiere totbeisst, die es nicht selbst gezeugt hat? Und die Juwelwespen, ­leben sie harmonisch? Die grüngoldenen Tierchen mit aparten roten Oberschenkeln, die in Afrika und in Indien zu Hause sind, harmonisieren mit der Amerikanischen Grossschabe, der sie ein Gift in die Ganglien spritzt. Danach lässt sich die Schabe willenlos in ­
eine Höhle führen und gemeinsam ­
mit ­einem Wespenei lebend begraben. ­Gelähmt vom Gift der Wespe, lebt die Schabe noch so lange, bis die Larve ­
sie Stück um Stück gefressen hat. Welche Harmonie also? Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet ­regulieren die Juwelwespen natürlich den Insektenbestand. Aber ist diese Harmonie für uns ein Vorbild? 
Die Natur fragt weder die Löwen­kinder noch die Radnetzspinnen, ­ob sie einverstanden sind. Diese Harmonie nimmt keine Rücksicht auf das ­Individuum.

Sich die Natur als Mutter vorzustellen, ist eine ziemlich bizarre Vorstellung. Oder ist es mütterlich, beständig neues Leben zu schaffen, um es rücksichtslos wieder zu vernichten? Und was ist fürsorglich an einer Mutter, die Plasmodien und Cholerabakterien hervorbringt, die Menschen weltweit terrorisieren? Ja, der Mensch ist Teil der Natur, und er ist jener Teil, der sich ­gegen ihre brutalen Gesetze aufgelehnt hat. Er hat es nicht akzeptiert, dass seine Existenz einer anderen Existenz als Zweck dient und sein Körper als Nahrungsquelle verwertet wird. Er hat ­revoltiert gegen den ewigen Kampf ums Überleben. Er hat gelernt, sich von den natürlichen Zyklen abzukoppeln und sich vor ihren Gewalten in Schutz zu bringen.

Er hat sich gegen jene Gesetze gewehrt, die einen grossen Teil der Frauen bei der Geburt tötete. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Müttersterblichkeit in den Industrie­nationen bei dreihundert pro hunderttausend Lebendgeburten. Seither ist sie um einen Faktor dreissig ­gesunken, und zwar dank der vollkommen unnatürlichen medizinischen ­Versorgung. Mutter Natur waren die anderen Mütter übrigens ganz und gar gleichgültig. Die verwesenden Frauenleichen dienten schliesslich anderen Organismen zur Nahrung, fanden sich also vollständig aufgehoben in der natürlichen Harmonie.

Die natürliche Harmonie besteht in einer monumentalen Gleichgültigkeit. Ihr Gleichgewicht ist ein Gleich­gewicht des Schreckens.

Wie hilflos bis zynisch der Rückgriff auf die «Mutter Erde» und ihre vermeintliche Natur ist, sieht man auch daran, dass die Biologin im Interview auf ein Land verweist, das seinen ökologischen Fussabdruck im Griff hat, auf Burundi nämlich. Dieser zentral­afrikanische Staat lebt tatsächlich nachhaltig, denn seine Bevölkerung 
ist mit einem Jahreseinkommen von 700 Dollar pro Kopf die zweitärmste der Welt. Die Lebenserwartung beträgt sechzig Jahre, und es ist klar, dass die Menschen dort die Natur weniger belasten als ein Schweizer, der zweiundzwanzig Jahre länger lebt und neunzig Mal mehr verdient.

Bewusstsein für menschliche Verantwortung entwickeln

Trotzdem beschreibt der Weltbio­diversitätsbericht eine fundamentale Tatsache. Die Spezies Mensch scheint zum Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Handel und Innovation, diese beiden wesentlichen Faktoren für die menschliche Entwicklung, haben in den letzten dreissig Jahren eine ungeheure Beschleunigung erfahren und bedrohen nun die Lebensgrund­lagen. Aber der Bericht zeigt auch eine Tendenz auf, die in der Moderne all­gegenwärtig ist und immer wieder als Modell dient, um den zivilisatorischen Widersprüchen zu entkommen: die irrationale Überhöhung der Natur, die Flucht in den Schoss ­einer metaphysischen, einer konstruierten «Mutter Erde».

Wenn wir als Gesellschaft der Dialektik aus Fortschritt und Zerstörung entkommen wollen, sollten wir aufhören, die Harmonie mit der Natur zu ­beschwören. Wir sollten aufhören, in ihr eine Mutter zu sehen. Tatsächlich folgt der Mensch den natürlichen Gesetzen, wenn er die Böden ausbeutet, die Meere überfischt, die Luft verpestet. Er folgt den natürlichen Gesetzen, wenn sich seine eigene Population rücksichtslos bis an die Ressourcengrenze entwickelt. Hefebakterien halten es so, Kaninchen halten es so, und auch der Riesenbärenklau macht dasselbe. Jede Art vermehrt sich, bis ihre Nahrungsgrundlagen erschöpft sind oder eine konkurrenzierende Art die Ausbreitung verhindert.

Wir sollten versuchen, auch diese natürliche Dynamik zu durchbrechen und auf die Eigenschaften setzen, die nur dem Menschen gemein sind. Neben der Dezimierung der Arten, der Vernichtung der Lebensgrundlagen schafft die Ausbeutung der Ressourcen auf kurze Sicht Wohlstand, auf lange Sicht aber Ungleichheit und Leiden – und zwar unter uns Menschen. Nachhaltige Entwicklung, darauf weist dieser trotz aller Kritik wertvolle Bericht zum Glück auch hin, ist zuerst eine soziale Aufgabe. Jene, die vom Wohlstand profitieren, tragen die Lasten nicht. Wir Zeitgenossen leben auf Kosten der kommenden Generationen.

Statt den Menschen zu dämonisieren, muss das Bewusstsein für seine Verantwortung entwickelt und gefördert werden. All dies ist der sogenannten Natur gleichgültig. Es ist gefährlich, ihre ­Harmonie zu beschwören. Sie nimmt keinen Anteil an unserem drohenden Schicksal, einem Schicksal, dem wir nur entkommen, wenn wir uns auf das besinnen, was den Menschen im Kern auszeichnet: auf seine Solidarität, sein Mitgefühl und seine Sehnsucht nach einer globalen ­Gerechtigkeit.

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