Zoologisch – Zoodirektor Severin Dressen erklärt
So halten wir die Brillenbären in Form

Die Brillenbären gelten als gefährdete Art. Zoodirektor Severin Dressen erzählt, wie es den Bären im Zoo Zürich ergeht und was sie brauchen, um ein gesundes Leben zu führen.
Publiziert: 01.07.2023 um 12:50 Uhr
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Severin DressenDirektor des Zoo Zürich

Geht es dem Brillenbären gut? Diese Frage wird mir zu dieser und anderen Tierarten immer wieder gestellt. Grundsätzlich spielen Bedürfnisse bei Tieren eine wichtige Rolle. Sie wollen gestillt werden. So wie auch wir Menschen Bedürfnisse nach Essen, sozialen Kontakten oder Hobbys haben, hat auch jede Tierart Bedürfnisse. Gelingt es, alle (oder zumindest viele) der Bedürfnisse zu stillen, hat das Tier ein hohes Wohlbefinden – oder auf Englisch: «welfare».

Wissenschaftlich kann man Welfare in fünf Teilgruppen, fünf sogenannte Domänen, einteilen: Ernährung, Umwelt, Gesundheit, Interaktionen und geistiger Zustand. Auf unsere Bären übertragen heisst das zum Beispiel Folgendes: Sie brauchen eine abwechslungsreiche, brillenbärentypische Ernährung, damit sie gesund bleiben. Da Bären in der Natur die meiste Zeit des Tages mit der Nahrungssuche verbringen, simulieren wir diese auch im Zoo. So füttern wir nicht alles auf einmal, sondern in ganz vielen kleinen Teilfütterungen über den Tag verteilt. Auch wird das Futter nicht einfach in einer Schale angeboten, sondern versteckt, vergraben oder aufgehängt. Die Bären müssen also richtig für ihr Essen arbeiten. Dies gelingt am besten in einer möglichst naturnahen Umwelt, der zweiten Domäne.

Unseren Bären stehen insgesamt drei Anlagen zur Verfügung. Immer wieder werden die Anlagen gewechselt, jedes Mal ist diese etwas verändert. Wasserbecken, Kletterbäume und Höhlen fordern die Tiere heraus und ermöglichen ein naturnahes Verhalten. Bewegung und gutes Futter sind zwei wichtige Voraussetzungen für die dritte Domäne: die Gesundheit. Im Zoo geht es den Tieren in dieser Hinsicht um Welten besser als ihren Artgenossen in der Wildnis. Führen dort bereits kleine Verletzungen oder Infektionen manchmal zum Tod, steht im Zoo ein Team von Tierpflegerinnen und Tierärzten des Tierspitals bereit, um eine hohe und gute Gesundheit zu garantieren.

Brillenbären sind vom Aussterben bedroht.
Foto: Enzo Franchini
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Die vierte Domäne sind die Interaktionen – sowohl innerhalb der gleichen Art als auch zwischen verschiedenen Arten. Unsere Brillenbären sind eigentlich Einzelgänger, das heisst, die innerartlichen Interaktionen sind eingeschränkt. Aber Jungtiere verbringen die ersten Jahre mit der Mutter und sind eine wichtige Beschäftigungsquelle für das Elterntier. Wer von Ihnen selber Kinder hat, kann das bestätigen. Als zwischenartliche Beschäftigung leben unsere Bären zudem mit den kleinen Nasenbären zusammen. Auch hier kommt es zu Interaktionen, wenn die Nasenbären den Bären die besten Leckerli stibitzen oder sie in anderer Form herausfordern.

Alle vier Domänen zahlen auf den geistigen Zustand des Tieres ein. Je besser und komplexer diese vier Domänen ausgefüllt sind, desto vollständiger wird der geistige Zustand des Tieres abgerufen. Dazu zählen zum Beispiel Zustände wie Neugierde, Vertrauen und ein Gefühl der Kontrolle – aber auch Stress kann manchmal belebend sein, solange er nicht chronisch wird.

Die grosse Herausforderung in der Tierhaltung besteht darin, die fünf Domänen für jede Tierart zu verstehen. Je weniger erforscht eine Art ist, umso grösser die Herausforderung. Bei unseren inzwischen recht gut erforschten Brillenbären gelingt es uns schon sehr gut, die fünf Domänen abzudecken. Auch deshalb zählt unsere Brillenbärenanlage auch dreissig Jahre nach ihrer Erbauung immer noch zu den führenden Bärenanlagen weltweit.


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