Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Der «Atlas des Unsichtbaren» bietet andere Weltsicht

«Wir können unsere Schlüsse über das Unsichtbare ziehen», sagt der Maler Gerhard Richter (90). «Aber alles, was wir schaffen können, ist eine Analogie zum Unsichtbaren, nicht aber das Unsichtbare selbst.» Dieses Buch ist die beste Analogie.
Publiziert: 10.05.2022 um 10:12 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Der ganze Globus grünlich auf Glanzpapier, gross, gewichtig: So präsentiert sich in der Regel ein Atlas. Solch ein Ding trug ich einmal quer durch die Stadt: 5,9 Kilogramm! Da spürte ich die volle Bedeutung des griechischen Worts «Atlas»: «tragen», «erdulden». In der antiken Mythologie ist Atlas ein Titan, der im Kampf zwischen Zeus und Kronos auf der Verliererseite stand und zur Strafe das Himmelsgewölbe auf dem Rücken tragen musste – das Atlasgebirge von Tunesien bis Marokko ist nach ihm benannt.

«Über Jahrhunderte war in Atlanten dargestellt, was die Menschen sahen: Strassen, Flüsse, Berge», schreiben James Cheshire und Oliver Uberti in ihrem kürzlich veröffentlichten «Atlas des Unsichtbaren». «Heutzutage benötigen wir Grafiken, um die unsichtbaren Muster zu enthüllen, die unser Leben beeinflussen.» In 64 Karten zeigen die beiden, woher wir kommen, wie es uns geht und was uns erwartet – von Migrationsströmen der Vergangenheit über Informationsflüsse der Gegenwart bis zu Hitzewallungen der Zukunft.

Die beiden Autoren sind ausgewiesene Fachleute: Cheshire ist Geograf und Professor für Kartografie am University College London, Uberti war früher Bildredaktor von «National Geographic» und lebt heute in Los Angeles. Ihre erste Zusammenarbeit «London: The Information Capital» zeichnete die British Cartographic Society 2015 mit dem Preis für herausragende Kartografie aus. Ihre «Wege der Tiere» erhielten 2017 den Edward Stanford Travel Writing Award in der Kategorie Innovation.

Mit einem Atlas will der Mensch die Welt begreifbar machen.
Foto: imago/Panthermedia

Doch diese Innovation beruht auf Tradition: Cheshire und Uberti berufen sich auf den deutschen Forschungsreisenden Alexander von Humboldt (1769–1859). «Humboldt wusste, dass seine Wortgewandtheit nicht ausreichen würde», schreiben die beiden. «Man musste das ‹lebendige Ganze› sehen, um es zu glauben.» Daher habe Humboldt seinen Freund Heinrich Berghaus (1797–1884) mit der Anfertigung eines Atlas beauftragt, der seinen Kosmos an Welterfahrung illustrieren solle.

1838 erscheint der erste Teil des «Physikalischen Atlas», 1848 ist er mit 75 Karten vollendet – Berghaus und Humboldt definieren neu, was ein Atlas alles sein kann. Die nüchternen Umrisse von Orten, die jahrhundertelang Atlanten füllten, weichen poetischen Ansichten zu den Abläufen in der Natur. Der «Physikalische Atlas» sei der erste, der die Welt nicht zu entdecken suche, indem er frage, was sich wo befinde oder wem etwas gehöre, sondern indem er erläutere, wie und warum, so Cheshire und Uberti.

«Wie schon Humboldt und Berghaus vor fast 200 Jahren wollen wir vor allem Muster aufzeigen, keine Orte», schreibt das Autorenduo weiter. Etwa die unterschiedlich dicken Striche, die wie eine kunstvolle Kohlezeichnung aussehen. Doch sie veranschaulichen den Kohlendioxidausstoss. Cheshire und Uberti dazu: «Ein Flug über den Atlantik und zurück verursacht genauso viele CO2-Emissionen wie zwei Jahre lang Fleisch essen, wie acht Jahre ohne Recycling oder vier Lebensvorräte an Plastiktüten.»

James Cheshire/Oliver Uberti, «Atlas des Unsichtbaren – Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern», Hanser

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