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Der Begriff Solidarität hat im Corona-Jahr Hochkonjunktur

Ob wir Betriebe, Nachbarschaften oder ganze Gesellschaften betrachten, immer stossen wir auf Kräfte, die das Solidarische beflügeln – und auf das Gegenteil davon. «Von einem ‹Auslaufmodell› kann also keine Rede sein», so Jürgen Prott.
Publiziert: 14.03.2021 um 08:18 Uhr
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Aktualisiert: 09.04.2021 um 14:41 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Solidarität ist seit der Pandemie in aller Munde. Das belegt ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank: Im Jahr seit dem ersten Corona-Fall in der Schweiz vom 25. Februar 2020 findet sich der Begriff 38'716 Mal in deutschsprachigen Artikeln, im Jahr zuvor sind es 10'140 Nennungen – das ist beinahe eine Vervierfachung! «Wir brauchen Solidarität», schreibt der «Willisauer Bote» am 15. April 2020, am 5. Juni 2020 fragt der «Tages-Anzeiger»: «Auf welche Art sollen wir solidarisch sein?», und die «NZZ» frotzelt am 15. Februar 2021: «Das Gerede von der Solidarität.»

«Konfliktfall Solidarität» betitelt der deutsche Soziologe Jürgen Prott (78) sein kürzlich erschienenes Buch mit «Geschichten und Analysen aus einer erschöpften Lebenswelt». Wenn es um Leben und Tod gehe, so Prott, wenn öffentlich darüber gestritten werde, ob die menschliche Würde für alle nur zu bewahren sei, wenn sich moralische Prinzipien durchsetzen, neigen viele dazu, den gebotenen Zusammenhalt der Gesellschaft als Ausdruck gelebter Solidarität mit einer Stärkung des Prinzips des Gemeinschaftlichen gleichzusetzen. Doch Prott warnt: «Wo moralischer Rigorismus um sich greift, kann gerade ein Gemeinwesen aus dem Takt geraten.» Solidarität könne man nicht einfordern, sie sei freiwillig.

Als soziale Wesen seien die Menschen zwar aufeinander angewiesen. Sich gegenseitig anzuerkennen und aufeinander Rücksicht zu nehmen, aber auch einander in Notsituationen unter die Arme zu greifen, gehöre zu den grundlegenden Merkmalen zivilisierten Verhaltens. Aber, so Prott weiter: «Auch eine Pandemie, deren Folgen sich tief in die Poren des sozialen Alltags eingraben, setzt die Gleichzeitigkeit von Konkurrenz und Solidarität, von gelebter Mitmenschlichkeit und kalter Selbstsüchtigkeit nicht ausser Kraft.» Im Schatten des Gemeinsinns behaupte sich Gemeinheit.

Zudem hat es die Solidarität in Zeiten des Abstandnehmens nicht leicht, denn sie schöpft ihre Kraft nicht zuletzt aus menschlicher Nähe. Erschwerend kommt hinzu, dass die Nähe hier nicht das familiäre Umfeld meint. «Ist es nicht etwas ganz anderes, Bindungen in der Anonymität einer grösseren Gruppe zu festigen?», fragt Prott rhetorisch, «gar in der Gesellschaft, die manchen als eine einzige Ansammlung von Fremden erscheinen mag?» Nicht Verwandtschaft ist Voraussetzung, sondern Verlässlichkeit und Vertrauen, schreibt der Gewerkschaftssoziologe und nennt ein Beispiel: «Arbeitnehmersolidarität nährt sich gleichermassen aus kaltem Verstand und heissem Gefühl.»

Lange bevor das Wort Solidarität in moralphilosophischen Erörterungen über das menschliche Zusammenleben Eingang fand, bezeichnete «Brüderlichkeit» die damit zur Sprache gebrachten Sachverhalte, so Prott. Doch vom christlichen Begriff der «Barmherzigkeit» hält er nicht viel, denn sie sei eine herablassende Geste, während sich solidarische Menschen auf Augenhöhe begegnen sollten: «Nur wer zum persönlichen Opfer bereit ist», zitiert Prott den US-Soziologen Richard Sennett (78), «stellt seine solidarische Grundhaltung glaubwürdig unter Beweis.»

Jürgen Prott, «Konfliktfall Solidarität – Geschichten und Analysen aus einer erschöpften Lebenswelt», Steidl

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