Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
«Der Wind ist Kommunist»

«Der Wind, der Wind, das himmlische Kind» heisst es im Grimm-Märchen «Hänsel und Gretel». Doch eigentlich ist er ein irdisches Kind, das Leben auf der Welt erst möglich macht.
Publiziert: 21.11.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.11.2023 um 12:39 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

In diesem Monat fegten Sturmtiefe über Europa, verursachten in Nordfrankreich sowie der Toskana Überschwemmungen und sorgten bei uns für Spitzenböen in den Bergen. Bei solchen Meldungen kommt mir das berühmte Gedicht «Weltende» von Jakob van Hoddis (1887–1942) in den Sinn mit folgenden Versen: «Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei» oder «Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken».

So stark Wind zerstören kann, er erschafft erst Leben auf Erden, ist also im Gegenteil Weltbeginn. Das schreibt die deutsche Schriftstellerin Kerstin Decker (60) in ihrem neuen Buch mit Verweis auf die Schöpfungsgeschichte im Alten Testament, wo «der Geist Gottes» auf dem Wasser schwebte. «Das hebräische Wort, gewöhnlich übersetzt mit ‹der Geist Gottes›, lautet ruach, und ruach ist ein Wind», so Decker. Wird die Welt gemäss Bibel so beatmet, kommt jeder einzelne Mensch mit dem ersten Atemzug auf die Welt.

«Rund 500 Millionen Mal atmet der Mensch», schreibt Decker. Das sind täglich rund 20’000 Mal. Und sie verweist darauf, dass wir uns in einem Ozean befinden: «Wir leben in einem Luftmeer, ganz unten.» Wir können uns dort zwar weigern zu essen oder zu trinken, aber atmen müssen wir. Decker: «Auch Atem ist Wind, er ist der belebende Hauch.» Erst der Tod sei das ultimative Ereignis plötzlicher Windstille. Und wenn wir niesen, erreiche unsere Atemluft Orkanstärke: 160 km/h. 

So weit der Wind trägt: Segelschiffe haben mit ihrer umweltfreundlichen Energie Zukunft.

Wobei wir wieder bei irdischen Winden sind, die die Menschheit schnell zu nutzen wusste. Wer wo das erste Segel hisste, ist unbekannt, nur die erste Darstellung eines Segels ist überliefert: Eine rund 7000 Jahre alte Urne im ägyptischen Luxor zeigt ein Nilschiff mit senkrechtem Mast und quer davor ein Quadrat. Später ist der portugiesische Seefahrer Fernando Magellan (1480–1521) erstmals um die Welt gesegelt. «Kein Mensch wäre um die Erde gerudert», so Decker. Für solchen Ehrgeiz brauchte es einen Komplizen: den Wind.

«Wie konnte man die Energie, die überm Wasser weht, so lange vergessen», schreibt Decker angesichts der Tatsache, dass die EU die CO₂-Emissionen in der Schifffahrt bis Mitte des Jahrhunderts um 80 Prozent senken will. Bald schon soll der schwedische Frachtsegler «Oceanbird» – 200 Meter lang, 40 Meter breit – 7000 Autos transportieren. Mit seinen fünf aufragenden Tragflächensegeln aus Stahl und Verbundmaterial gleicht er den alten Dampfschiffen mit ihren Kaminen.

Würde sich die Erde nicht drehen, gäbe es auf der Nordhalbkugel nur Südwind, auf der Südhalbkugel nur Nordwind – vom Äquator zu den Polen. «Der Wind ist Kommunist», schreibt die in der DDR geborene Philosophin. Der Wind hasse ungleiche Verteilungsverhältnisse, nur darum wehe er. Er wolle, dass überall gleich viel Luftdruck sei. Sei das geschafft, herrsche vollkommene Windstille. «Friede im Äther», schreibt Decker.

Kerstin Decker

«Eine kleine Geschichte des Windes», Berlin.

«Eine kleine Geschichte des Windes», Berlin.

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