Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Hirnstamm gegen Hightech

«Fakten hören nicht auf zu existieren, nur weil sie ignoriert werden», schrieb der britische Schriftsteller Aldous Huxley (1894–1963). Umso wichtiger ist es, Tatsachen immer wieder zu benennen, wie das dieses Buch macht.
Publiziert: 30.11.2020 um 07:01 Uhr
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Aktualisiert: 03.12.2020 um 14:36 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Konzertveranstaltungs-Initiative: Das las ich schnellen Schrittes von der Strasse aus, als vor vier Jahren die ersten orangen Aushänge an Balkonen prangten. «Was will dieses Volksbegehren?», dachte ich – merkte dann aber bald, dass ich falsch lag und sie Konzernverantwortungs-Initiative heisst, über die wir heute abstimmen. Obwohl: Ironischerweise würde gerade jetzt während der Corona-Pandemie mit all den Beschränkungen eine Konzertveranstaltungs-Initiative auch Sinn machen.

«Warum wir so oft falschliegen» lautet die Unterzeile des Sachbuchs, das ich heute vorstellen möchte. Trotz des reisserischen Titels «What the fact!?» geht es hier nämlich nicht ums Besserwissen, sondern ums Weiterlernen: In 36 Kapiteln stellt Herausgeber Tobias Moorstedt (43) Fragen zu aktuellen Themen wie Corona, Flugscham oder Plastikmüll, Infografiker Ole Häntzschel (41) verbildlicht kongenial die oft verblüffende Antwort, und Fachleute erklären in Essays und Interviews, weswegen sie uns überrascht.

«Man sollte nicht unterschätzen, wie viel man selbst nicht weiss und wie viel man gerade von Menschen lernen kann, die infragestellen, was man für selbstverständlich hält», schreiben die Philosophin Romy Jaster (35) und ihr Fachkollege David Lanius (36) in einem Essay. 2019 veröffentlichten sie das Buch «Die Wahrheit schafft sich ab: Wie Fake News Politik machen». Und hier schreiben sie über uns Menschen: «Wir nehmen vor allem Informationen zur Kenntnis, die unseren Wünschen, Erwartungen und bereits bestehenden Überzeugungen entsprechen.» Trotz Informationsflut durch Hightech siegt der Hirnstamm.

Bobby Duffy, Professor für Politikwissenschaft am Londoner King's College, doppelt nach: «Unsere Selbsttäuschungen halten sich hartnäckig, über Jahrzehnte, Ländergrenzen und alle möglichen Themen hinweg.» Wussten Sie zum Beispiel, dass die durchschnittliche Rente von Frauen über 65 in Estland zu 98 Prozent jener der Männer entspricht, in der Schweiz aber nur zu 68 Prozent? Oder dass die Generation Z zwar umweltbewusster ist als die Babyboomer, für Smartphones aber jährlich Datenmengen verbraucht, die dem CO2-Ausstoss eines 190-Kilometer-Flugs entsprechen?

Die Fakten in diesem Buch basieren stark auf Deutschland. Dennoch geben die wissenschaftlichen Einordnungen einen guten Einblick ins Denken und Lenken aller Menschen. «Wir sehen uns als Teil der grossen Fact-Checking-Community», schreibt denn auch Herausgeber Moorstedt. «Wir wollen die Menschen dazu bringen, ihre eigenen Meinungen zu hinterfragen und herauszufinden, wie gut sie eigentlich über die Welt Bescheid wissen.» Und das gelingt ihnen – das ist ein Fakt.

Ole Häntzschel/Tobias Moorstedt, «What the fact!? Warum wir so oft falschliegen», Hoffmann und Campe

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