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Ist Putin ein Tyrann?

Wer Gewaltherrscher als Tyrannen abstempelt, macht sie zu Unmenschen und muss sich nicht mehr mit ihnen beschäftigen. Aber es sind leider Menschen wie Sie und ich, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Publiziert: 11.10.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2022 um 15:44 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Von wem, denken Sie, ist diese Aussage? «Marschiert! Marschiert! Nun stehn wir ja in Waffen. Und gilts nicht Kampf mit auswärtigen Feinden, schlagen wir die Rebellen hier zu Haus.» Von Putin aktuell? Von Erdogan nach dem Putschversuch gegen ihn 2016? Oder von Trump vor dem Sturm seiner Anhänger aufs Capitol 2021? Nein, so spricht die Titelfigur im Theaterstück «Richard III.» von William Shakespeare (1564–1616).

Die Parallelen zu heute scheinen aber offensichtlich. Deshalb ist 2018 auch «Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert» erschienen. «2019 las Angela Merkel während ihres Sommerurlaubs das ihrerzeit viel diskutierte neue Buch des amerikanischen Literaturhistorikers und Shakespeare-Experten Stephen Greenblatt», steht nun im eben erschienenen Sammelband «Tyrannen». Merkel habe sich so mit dem Regierungsstil ihres US-Amtskollegen Trump auseinandersetzen wollen.

Die deutsche Geschichtswissenschaftlerin Barbara Stollberg-Rilinger (67) und ihr deutscher Berufskollege André Krischer (48) haben für «Tyrannen» Fachleute aus verschiedenen Fakultäten und Universitäten beauftragt, Porträts zu historischen und gegenwärtigen Gewaltherrschern zu schreiben. Zusammengekommen sind 20 Texte zu Tyrannen: vom Römer Caligula (12–41) über den besagten englischen König Richard III. (1452–1485) bis hin zum russischen Präsidenten Wladimir Putin (70) – ein richtiges Gruselkabinett.

«Autoritär, totalitär oder neostalinistisch»: der russische Präsident Wladimir Putin.
Foto: keystone-sda.ch

Tyrannen eben. Aber so krass, wie es der Titel verspricht, sind die Beiträge nicht. Denn Wissenschaftlern ist eigen, dass sie alles abwägen und relativieren. So heisst es hier: «War der Kaiser Gaius ein Tyrann?» Da: «War Mugabe ein Tyrann?» Und dort: «Richards Tyrannei – nur ein Mythos?» Tatsächlich war das geschichtliche Vorbild bereits über hundert Jahre tot, als Shakespeare sein Historiendrama um 1593 veröffentlichte. Der Dichter kannte den König auch nur vom Hörensagen.

Mit Zuschreibungen ist es denn auch so eine Sache: Bei historischen Personen ist die Faktenlage aufgrund fehlender Quellen oft unklar, bei gegenwärtigen Figuren aufgrund vieler Fakten noch ungeklärt. So lauten die Adjektive zu Putin mal «autoritär, despotisch, totalitär, faschistisch, stalinistisch oder neostalinistisch» – um nur ein paar zu nennen. «Man kann diese Begriffsunsicherheit als Manko empfinden», heisst es, «aber Begriffe stellen sich in der Regel erst dann ein, wenn sich eine Sache so weit ausgebildet hat, dass sie spruchreif werden kann.»

Doch bis dann ist wieder so viel Zeit vergangen, dass die Faktenlage erneut unklar ist. Drücken sich die Autorinnen und Autoren in «Tyrannen» so vor einem klaren Urteil? Sie sprechen den Porträtierten zwar meistens Menschlichkeit ab, wollen aber Menschen sichtbar bleiben lassen, damit wir uns mit ihnen von Angesicht zu Angesicht beschäftigen müssen. Eines wird dadurch klar: Statt «Tyrannen» hätte man dieses Buch besser «Tyrannen?» betitelt.

André Krischer/Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), «Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin», C. H. Beck

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