Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Schlafen anstatt schaffen in der Nacht

Noch sind die Nächte lang, geniessen wir sie also von ihrer dunkelsten Seite. Denn darin liegt viel kreatives Potenzial, das uns mit allen Sinnen fordert, wie Bernd Brunner in diesem Buch eindrücklich beschreibt.
Publiziert: 04.01.2022 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.01.2022 um 15:34 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Es ist eine seltsame Erfahrung: Ich stochere in meinem Teller herum und versuche etwas aufzugabeln. Endlich geschafft, führe ich die Speise zum Mund und versuche zu ergründen, was ich gerade esse – kalt, ein bisschen glitschig, wenig gesalzen. Die Gläser mit dem Wein können wir erstaunlicherweise schon nach wenigen Minuten ohne zu verschütten greifen und versiert zu den Lippen heben. Es ist Rindstatar, das ich runterspüle, erfahre ich nach meinem ersten Nachtessen im Lokal Blinde Kuh.

«Man betritt Dunkelrestaurants über eine Lichtschleuse», schreibt der Berliner Autor Bernd Brunner (57) in seinem unlängst erschienenen «Buch der Nacht». «Die Sinne werden dabei auf ganz neue Weise herausgefordert: Beim Dinner im stockfinsteren Gastraum haben die Augen eine verdiente Pause.» Eine seltene Erfahrung in der heutigen Welt, in der die Menschen alles dem Gesichtssinn unterordnen und die Nacht zum Tag machen. Das Dunkle verdrängen sie mehr und mehr.

«Erst der Mensch kam auf die Idee, die Nacht bewusst durch Feuer zu erhellen», so Brunner. Zuvor war die Rechnung simpel: «Nacht ist dort, wo die Sonne fehlt» – nämlich wenn die Erde sich bei ihrer täglichen Rotation so weit gedreht habe, dass man sich auf ihrer Schattenseite befinde. Der sogenannte «Terminator», die Tag-Nacht-Grenze, bewegt sich in Äquatornähe mit 1670 km/h in westlicher Richtung über die Erde. So halten sich Tag und Nacht übers Jahr gesehen die Waage.

Mit künstlichem Licht gegen die Nacht: Abendstimmung in Marburg (D).
Foto: imago images/Oliver Vogler

Alte Kulturen berechnen die Zeit nach Nächten, weiss Brunner zu berichten: «Im Sanskrit benutzt man anstelle von ‹täglich› die Formulierung ‹Nacht für Nacht› – nicanicam.» Im alten Mesopotamien habe es nächtliche Gebete gegeben, und man habe im Rahmen von Kulten Sterne und Planeten betrachtet – etwa zum Neujahrstag am gestuften Tempelturm (Zikkurat) von Ur. Und im alten Ägypten schliesslich seien manche Zeremonien und Mysterien abends und nachts erfolgt.

Noch in der vorindustriellen Zeit, bevor das künstliche Licht seinen Siegeszug antritt, kommt mit der Dämmerung in den Strassen von Ortschaften die profane Geschäftigkeit zum Erliegen, das öffentliche Leben erstirbt weitgehend. Brunner zitiert die eindrückliche Passage, in der Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) schildert, wie er vergeblich versucht das rettende Genf zu erreichen, bevor die Stadttore nachts schliessen. «Mit der Industrialisierung beschleunigte sich die Verlagerung des aktiven Lebens in die Nacht rasant weiter», so Brunner weiter.

Die Menschen stellen den natürlichen Wechsel von Tag und Nacht vollends auf den Kopf, um das zu schaffen, was der amerikanische Kunstkritiker Jonathan Crary (70) treffend mit dem Titel seines Buches «24/7 – Schlaflos im Spätkapitalismus» (2014) umreisst. Brunner: «Crarys Verständnis folgend wäre der allen Anstrengungen zum Trotz erkämpfte Schlaf ein Akt des Widerstandes gegen sich allenthalben aufdrängende Geschäftigkeit.» Die Dunkelheit der Nacht als immer knappere Ressource, die es unbedingt zu verteidigen gilt.

Bernd Brunner, «Das Buch der Nacht», Galiani

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