Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Ureinwohner als Modell für die Zukunft

«Hier stehe ich. Ich kann nicht anders», sagte einst Luther. Und heute steht die Welt still wegen des protestantischen Fleisses. Um sie wieder in Fahrt zu bringen, braucht es andere soziale Modelle, welche die Menschheit in ihrer Geschichte zuhauf erprobte.
Publiziert: 08.02.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.02.2022 um 12:57 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

«In diesen Papieren liegt die grosse Klugheit des Papalagi», sagt der Südseehäuptling Tuiavii über Zeitungen der «Weissen», nachdem er von einer Europareise in sein Inselreich Tuavea zurückgekehrt ist. «Der Papalagi» war in meiner Jugend ein beliebtes Buch, denn durch die grüne Bewegung der späten 1970er-Jahre erlebte der naive Blick des Wilden auf Werte des Westens ein richtiges Revival. Erstmals veröffentlicht hatte der Deutsche Erich Scheurmann (1878–1957) die erfundenen Reden 1920.

«In den europäischen Darstellungen eben jener imaginären, skeptischen Ureinwohner, die mit gehobenen Brauen auf die exotischen Kuriositäten Europas blicken», liege der wahre Ursprung der westlichen Perspektive, und nicht in den Berichten von Reisen der Europäer zu Indigenen. Das schreiben der US-Anthropologe David Graeber (1961–2020) und der britische Archäologe David Wengrow (49) in ihrem eben auf Deutsch erschienenen Monumentalwerk «Anfänge».

Die beiden wollen mit ihrem fast 700 Seiten dicken Buch nichts weniger als «eine neue Geschichte der Menschheit» schreiben, wie es im Untertitel heisst. Bisher ging man davon aus, dass unser Ende als Sammler und Jäger und der Anfang der Landwirtschaft der entscheidende Fortschritt menschlicher Zivilisation war. Das sei «schlicht und einfach unwahr», «mit schlimmen politischen Konsequenzen verbunden» und «dafür verantwortlich, dass die Vergangenheit langweiliger als nötig» erscheine, kontern Graeber und Wengrow.

Anthropologe und Anarchist: der US-Amerikaner David Graeber (1961–2020).
Foto: Getty Images

Sie sind davon überzeugt, dass die sogenannten Wilden als Sammler und Jäger zur gut 200'000-jährigen Geschichte des Homo sapiens manche wichtige Kapitel beitrugen – nur seien die verloren gegangen, oder die europäische Bildungsschicht habe sie schlicht überschrieben. Graeber und Wengrow: «Claude Lévi-Strauss (1908–2009) war einer der wenigen Anthropologen, die Mitte des 20. Jahrhunderts den Gedanken ernst nahmen, Frühmenschen seien uns geistig ebenbürtig gewesen.»

Der Anarchist Graeber («Schulden: Die ersten 5000 Jahre», «Bullshit Jobs») und sein Kollege Wengrow plädieren dafür, von Ureinwohnern alternative Modelle des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erlernen, anstatt «unseren von Natur aus miserablen Zustand durch ein bisschen Flickschusterei ein wenig zu verbessern». Denn die aktuelle Situation der durch christlich-westliches Denken geprägten Welt erfordere ein Umdenken, eine offene Sichtweise ohne Scheuklappen – sonst renne die Menschheit ins Verderben.

Wie eine andere Weltsicht aussehen kann, schildern Graeber und Wengrow unter anderem anhand einer Begegnung des französischen Pfarrers Pierre Biard (1567–1622) mit den kanadischen Mi'kmaq auf dem Gebiet des heutigen Nova Scotia. Der Geistliche war irritiert, weil sich die Ureinwohner für reicher erachteten als die Franzosen. «Die Franzosen hätten zwar mehr materielle Besitztümer, räumten die Mi'kmaq ein, sie indes verfügten über andere, wichtigere Güter: Ruhe, Behaglichkeit und Zeit.»

David Graeber, David Wengrow, «Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit», Klett-Cotta

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