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Wenn der Dichter den Richter ersetzt

Schuldig? Nicht schuldig? Seit der Jahrtausendwende müssen Theaterbesucherinnen und -besucher immer häufiger ein Urteil fällen – eine heikle Angelegenheit.
Publiziert: 21.02.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 21.02.2023 um 07:07 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Das Urteil ist eindeutig: 84 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind für den Freispruch eines Mannes, der für den Tod von 164 Menschen verantwortlich ist. Der Gerichtsprozess ist gegen den Kampfpiloten Lars Koch gerichtet, der eigenmächtig ein entführtes Passagierflugzeug abgeschossen hat – Terroristen wollten es in einem Fussballstadion mit 70’000 Zuschauern zum Absturz bringen. Koch kam diesem möglichen Inferno mit seinem Abschuss zuvor.

«Terror – Ihr Urteil» heisst die TV-Sendung mit Televoting vom 17. Oktober 2016, die auf einem Theaterstück des deutschen Schriftstellers und Juristen Ferdinand von Schirach (58) beruht. «‹Terror› war in der Spielzeit 2016/17 die meistgespielte Inszenierung auf deutschen Bühnen und wurde bisher in 29 Ländern aufgeführt», schreibt die Theaterwissenschaftlerin Géraldine Boesch (34) in ihrem eben erschienenen Buch. Es ist ihre Dissertation, für die sie an der Universität Bern den Doktortitel erhielt.

«In der deutschsprachigen Theaterlandschaft stehen seit der Jahrtausendwende immer häufiger Inszenierungen und Performances auf den Spielplänen (…), welche sich mit demokratischen Verfahren, kollektiven Aushandlungsprozessen oder Entscheidungsfindungen beschäftigen», schreibt Boesch. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich auch mit den «Letzten Tagen der Ceaucescus» (2009), den «Moskauer Prozessen» (2013) und den «Zürcher Prozessen» (2013) gegen die «Weltwoche» – alles unter der Regie des Schweizers Milo Rau (46).

«Terror» von Ferdinand von Schirach: Florian David Fitz als Angeklagter, Major Lars Koch (l.) und Lars Eidinger als Verteidiger Biegler (r.).
Foto: Julia Terjung

Seit 2006 ist «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel (57) auch Verleger der Zeitung, und es gab mehrere vergebliche Versuche, ihn wegen provokativen Titelblättern und tendenziösen Berichterstattungen gerichtlich zu belangen. «Rau inszenierte im Zürcher Theater Neumarkt, was rechtlich nicht stattfinden durfte», so Boesch. Zudem habe die Schweiz 2011 die Strafprozessordnung reformiert, wodurch es häufiger zu einem Strafbefehl als eine Art «Strafofferte» komme statt eines ordentlichen Prozesses.

Theater springen hier in die Bresche und verhandeln die Fälle des Langen und Breiten auf Bühnen, oftmals unter Einbezug des Publikums. Dabei sei weniger ein Urteil das Ziel, sondern das Abwägen, schreibt Boesch und zitiert den Verfasser von «Terror»: «Von Schirach gibt an, dass für ihn die Resultate der Abstimmung zweitrangig seien, relevant sei einzig, dass miteinander diskutiert werde.» Da will einer die demokratische Debatte fördern – welch löbliches Ansinnen, möchte man meinen.

Doch das Ganze hat einen Hacken: Gerade Aufführungen wie «Terror», bei denen das Publikum ein Urteil fällen muss, wirken populistisch und lassen die Justiz als ein Kinderspiel erscheinen. Selbst Milo Rau gibt bei seinem Stück «Die letzten Tage der Ceausescus» zu bedenken: «Um ehrlich zu sein, war (…) mir nicht bewusst, dass wir die Zuschauer gewissermassen gezwungen haben, Stellung zu nehmen zu etwas, was viel zu widersprüchlich ist, um sich irgendwie dazu zu positionieren.» Deshalb: im Zweifel für den Angeklagten.

Géraldine Boesch, «Im Theater – Vor Gericht: Publikumspartizipation in theatralen Gerichtsformaten», Chronos

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