Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Wer nach vier Wortwechseln nicht überzeugt, schafft es nicht mehr

«Der denkende Mensch ändert seine Meinung», sagte einst der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900). Denn alles andere ist Glauben, wie diese Buch eindrücklich aufzeigt.
Publiziert: 12.07.2023 um 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 09.07.2023 um 17:15 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Es gibt Totschlagargumente, die in jeder Diskussion funktionieren. Kürzlich sah ich das neue Soloprogramm «Wo bini gsi?» des Schweizer Kabarettisten Patrick Frey (74). Darin präsentierte er zwei akkurate Antworten, die wahlweise in jedem Gespräch anwendbar sind: «Irgendwer muss das bezahlen» oder: «Aber nicht im Süden!» Das Gegenüber dürfte ob dieser immer passenden und gleichzeitig nichtssagenden Einwürfen verblüfft sein und auflachen – doch danach folgt Schweigen und die Diskussion geht zu Ende.

«Wer diskutieren will, sollte diese Regeln kennen», untertitelt der Schweizer Wissenschaftsjournalist Reto U. Schneider (60) sein kürzlich erschienenes Buch «Die Kunst des klugen Streitgesprächs». Bekannt für seine ausgezeichnete «NZZ Folio»-Kolumne «Das Experiment» verfasst der studierte Elektrotechniker hier nicht minder anschaulich und einleuchtend neun Erkenntnisse – die gilt es zu beachten, wenn man mit anderen Menschen reden will; Menschen, die sogar anderer Meinung sein können.

«Wenn Sie von Anfang an kein anderes Ziel haben, als Ihren Gesprächspartner zu überzeugen», schreibt Schneider, «müssen Sie sich fragen, warum dieser nicht dasselbe Ziel mit Ihnen verfolgen sollte.» Je hartnäckiger dieses Ziel angepeilt werde, umso aussichtsloser sei es: Wer nach vier Wortwechseln nicht überzeuge, schaffe es nicht mehr. Vor allem müsse jeder selber den Willen zur Änderung haben. Denn, so Schneider: «Eine Meinung, von der man weiss, dass man sie nie ändern wird, ist gar keine Meinung, sondern ein Glaube.»

Wollen Sie nur den anderen überzeugen oder lassen Sie sich selber überzeugen?
Foto: Thomas Meier

Selbst wissenschaftliche Theorien müssen revidierbar sein, sonst sind sie religiöse Dogmen: So bestand im 17. Jahrhundert ein gängiger Wiederbelebungsversuch darin, Patienten Tabakrauch in den Hintern zu pusten, im 19. Jahrhundert galt Kokain als Mittel gegen Heuschnupfen, und noch 1923 sollte Rauchen gegen Asthma helfen – alles widerlegte Meinungen, über die wir heute lachen. Da der Wissenszuwachs sich nicht verlangsamt, müssen wir davon ausgehen, dass die Menschheit in ein paar Hundert Jahren genauso über gewisse heutige Meinungen lachen wird.

Auch wenn wissenschaftlichen Einsichten keine Aussichten auf Ewigkeit garantiert sind, so gilt für ETH-Absolvent Schneider dennoch: «Die wichtigste Grundlage, um sich eine Meinung zu bilden, ist Wissen.» Er propagiert die einfache Erklärung, nicht aber das Einzelbeispiel. «Die einfache Antwort hat nämlich die Statistik auf ihrer Seite», schreibt Schneider. «Jede zusätzliche Annahme kann sich als Irrtum herausstellen.» Dem konkreten Einzelbeispiel stellt er die Menge der Statistik gegenüber, der er mehr traut.

«Der grösste Teil des Wissens, das wir in eine Diskussion einbringen, haben wir weder selbst hergeleitet noch überprüft», schreibt Schneider. Wer sich nur oberflächlich mit einem Thema auseinandergesetzt habe, solle sich deshalb an den wissenschaftlichen Konsens halten – die statistische Trefferquote sei hier am höchsten. Ansonsten rät Schneider zu mehr Demut vor der Komplexität der Welt – man dürfe zu einem Thema auch mal keine Meinung haben.

Reto U. Schneider

«Die Kunst des klugen Streitgesprächs – wer diskutieren will, sollte diese Regeln kennen», Kösel

«Die Kunst des klugen Streitgesprächs – wer diskutieren will, sollte diese Regeln kennen», Kösel

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