Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Der Pisa-Test ist Unsinn

Die «Lesekompetenz» unserer 15-jährigen liegt bei 484 Punkten. In Finnland kommen die Jugendlichen auf einen Wert von 520 – in einer Sprache, die kaum ein Mensch versteht! Was witzig klingt, heisst ins Ernsthafte übersetzt: Der Pisa-Test vergleicht Unvergleichliches.
Publiziert: 07.12.2019 um 23:41 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick
Foto: Paul Seewer

In den letzten Tagen haben folgende Gemeinden bei der Schule gespart: Köniz BE, Münchwilen TG, Villnachern AG, Langnau ZH. Und die Gemeindeversammlung von Fischbach-Göslikon AG sagte Nein zu einem zusätzlichen Arbeitszimmer für ihre Schüler. Vergeblich hatte die Präsidentin der Schulpflege gefordert, den Kindern mehr Platz und Ruhe zu gönnen. Bei der Mehrheit verfing das nicht. Fischbach-Göslikon senkt stattdessen lieber die Steuern.

Der Schulhaussegen hängt aber nicht nur in den erwähnten Gemeinden mächtig schief, sondern landesweit. Grund ist der jüngste Pisa-Bericht, der am Dienstag publiziert wurde. Befund: Die Schweizer Schüler haben Defizite beim Lesen.

Die sogenannte Lesekompetenz unserer 15-Jährigen liegt bei 484 Punkten. In Finnland kommen die Jugendlichen auf einen Wert von 520 – noch dazu in einer Sprache, die kaum ein Mensch versteht!

Was lustig klingt, heisst ins Ernsthafte übersetzt: Im Pisa-Test werden unterschiedliche Schulsysteme gegeneinander in Konkurrenz gesetzt. Gute Systeme führen das Ranking an, die schlechten müssen in die Scham-Ecke.

Dabei gibt es in der Fachwelt erhebliche Zweifel daran, ob das «Schulsystem» an sich für den Lernerfolg entscheidend ist. Vielmehr liegt es an der jeweiligen Lehrperson: Ist sie ein Motivator oder ein Nörgler? Mit Abstand am wichtigsten aber ist die Frage, wo ein Schulhaus steht.

Die Kinder von Fischbach-Göslikon werden den Pisa-Schnitt künftig drücken, jene von Muri bei Bern werden ihn heben. In der reichen Vorortsgemeinde haben sich Eltern mit Erfolg gegen grosse Klassenzüge gewehrt. Jetzt gibt es dort mehr Klassen, jedes Kind wird individuell gefördert.

Ganz für die Katz ist die Pisa-Studie trotzdem nicht. In einem Sonderkapitel veröffentlicht sie Daten über Mobbing. Demnach herrscht in Schweizer Schulzimmern ein erschreckend aggressives Klima.

Ebenso erschreckend aber ist die Unbedarftheit, mit der die Pisa-Forscher das Phänomen zu erklären versuchen. Im Zentrum ihrer Erörterungen steht zunächst die These, die Ursache von Mobbing liege unmittelbar in der Kultur
eines Landes und in der Menta­lität seiner Bevölkerung. «Entgegen den Erwartungen» können die Autoren ihre Theorie dann aber nicht erhärten.

Aha.

Wenn also nicht die Schweizer Mentalität schuld ist, warum ziehen die Bildungsforscher nicht andere Erklärungen in Betracht? Warum fragen sie beispielsweise nicht, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen
Mobbingintensität und Klassengrösse? Oder auch: Lässt sich die destruktive Atmosphäre in den Schulen auf den stetig steigenden Leistungsdruck zurückführen? Auf jenen Leistungs- und Bewertungsdruck, den unter anderem Ranglisten wie die Pisa-Unter­suchung erzeugen?

Wenn man übrigens etwas von Finnland lernen kann, dann dies: Das dortige Bildungssystem ist ausdrücklich darauf ausgerichtet, möglichst wenig Leistungsdruck zu erzeugen. Die Kinder müssen nicht still in der Klasse sitzen. Stattdessen dürfen sie selbst entscheiden, wo und wie sie lernen.

Doch auch in Finnland gilt: Entscheidend sind die Lehrerinnen und Lehrer. Und dass bei der Bildung nicht gespart wird.

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