Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty zum Ukraine-Krieg
Der Anfang vom Ende von Putins Schreckensherrschaft

Russlands Ex-Präsident Medwedew ist frustriert und droht dem Westen mit einem Weltkrieg, der Kreml fürchtet den Unmut der Bevölkerung und die Propagandalügen werden immer plumper. All dies zeigt: Der Kreml steht unter enormem Druck. Grund zu vorsichtigem Optimismus.
Publiziert: 17.09.2022 um 23:58 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 13:31 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Erinnern Sie sich an Mischa und Mascha? 13 Jahre ist es her, seit Dmitri Medwedew zum Staatsbesuch in der Schweiz weilte, die beiden Bären als Mitbringsel im Gepäck. Medwedew war damals Präsident in Moskau und unser Land erpicht darauf, in der Russischen Föderation einen Freund und Geschäftspartner zu finden.

Die zwei Bären drehen nach wie vor im Berner Tierpark Dählhölzli ihre Runden. Seit Vater Mischa den gemeinsamen Nachwuchs zerfleischt hat, taugt das Paar allerdings kaum mehr als Sympathieträger. Unendlich viel schlimmer jedoch ist es um Dmitri Medwedew bestellt: Er droht dem Westen mit der atomaren Vernichtung.

Auf seinem Telegram-Kanal schwadronierte der Ex-Staatschef und heutige Vizevorsitzende des russischen Sicherheitsrats diese Woche vom «Auftakt zum Dritten Weltkrieg». «Dann werden sich die westlichen Länder nicht mehr in ihren aufgeräumten Häusern und Wohnungen zurücklehnen. Um sie herum wird alles in Flammen aufgehen. Ihr Volk wird leiden. Die Erde wird buchstäblich brennen, und der Beton wird schmelzen.»

Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier

Vor acht Tagen musste Russland im Nordosten der Ukraine ein Gebiet in der Grösse des Kantons Bern räumen. Das ist mehr, als man in den fünf Monaten zuvor erobert hatte. Mal versucht die Kreml-Propaganda diesen Rückzug als «Umgruppierung der Truppen» zu beschönigen. Mal behauptet sie, die eigenen Soldaten stünden in der Ukraine einer Übermacht hochtechnisierter Streitkräfte aus dem Westen gegenüber. Dmitri Medwedews Rachefantasien knüpfen an diese Darstellung an.

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In dieser Situation verschärft das Regime die Repression im eigenen Land. Die Zahl der Verhaftungen ist nach oben geschnellt – offenbar wimmelt es überall von vermeintlichen Staatsfeinden und Verrätern. Soeben wurden die Lernziele für Russlands Kinder angepasst. Gemäss einem Erlass des Kultusministeriums stehen neu auf dem Stundenplan: «Ursachen und Folgen des Zusammenbruchs der UdSSR, die Wiedergeburt der Russischen Föderation als Weltmacht, die Wiedervereinigung der Krim mit Russland und die besondere militärische Operation in der Ukraine».

Auch die Verelendung der russischen Gesellschaft schreitet voran. Mittlerweile fliesst ein Drittel des russischen Haushalts in die Rüstungsindustrie. Gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit, und eine Moskauer Versicherung berichtet, dass sich rund die Hälfte der Russinnen und Russen im Alltag empfindlich einschränken muss. Besonders sparen sie demnach bei Ausgaben für die Gesundheit.

Diese wirtschaftlichen Probleme versucht das Regime ebenfalls zu kaschieren. Das kippt dann aber rasch einmal ins Groteske. So kann es vorkommen, dass die staatliche russische Medienagentur Tass dem krisengeplagten Westen die angeblich robuste Konjunktur in Russland entgegenhält – und gleich daneben ist das Inserat einer Firma zu sehen, die Umzüge von Russland nach Westeuropa organisiert. «Sorgenfrei in ein anderes Land ziehen», lautet der Slogan des Unternehmens, das übrigens auch beim Wohnsitzwechsel in die Schweiz behilflich ist, Ausstellung der Zollerklärung inklusive.

Leider müssen wir weiterhin mit einem langen Krieg gegen die Ukraine rechnen. Gleichwohl geben die aktuellen Entwicklungen Grund zu Optimismus. Medwedews Frustration, die wachsende Furcht vor dem Unmut der Bevölkerung, die viel zu plumpen Propaganda-Lügen – all dies zeigt: Der Kreml steht unter enormem Druck.

Vielleicht wird man dereinst im Rückblick den Anfang vom Ende der Schreckensherrschaft Wladimir Putins auf den September 2022 datieren.

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