Editorial zur Einsamkeit in der Schweiz
Wir leben im Zeitalter der Unmenschlichkeit

Jedes Jahr sterben hierzulande Hunderte, ohne dass sie jemand vermisst. Diese Menschen waren vollkommen vereinsamt. Was das über unsere Gesellschaft aussagt.
Publiziert: 03.03.2019 um 00:03 Uhr
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Aktualisiert: 04.03.2019 um 10:45 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Der moderne Mensch strebt nach Einzigartigkeit. Wahrscheinlicher ist aber, dass er in der Einsamkeit landet.

Die israelische Soziologin Eva Illouz diagnostiziert für die westliche Welt eine «Einsamkeitsepidemie». Und der deutsche Psychiater Manfred Spitzer erklärt die Einsamkeit gleich zur «Todesursache Nummer eins».

Eva Illouz und Manfred Spitzer glauben auch zu wissen, woher das ganze Elend rührt: von unserem Maschinen-Fetischismus. Der Zeitgeist erwartet alles Heil von der Technik und vernachlässigt im Gegenzug das unmittelbar Menschliche.

Ein besonders augenfälliges Beispiel für diese These sind die sozialen Medien. Eine
Untersuchung amerikanischer Ärzte zeigt: Je mehr Zeit jemand auf Facebook verbringt, desto stärker fühlt er sich von seiner Umwelt isoliert.

Im nebenstehenden Text beschreibt SonntagsBlick-Reporterin Aline Wüst das traurige Ende unzähliger Schweizer Senioren. Jedes Jahr sterben hierzulande Hunderte, ohne dass dies jemanden interessiert. Niemand hat diese Menschen getröstet, als sie litten. Keiner trauert um sie.

Es ist mehr als bloss wahrscheinlich, dass keiner dieser Senioren vereinsamt ist, weil er zu viel Zeit mit Social Media verbracht hat. Viele waren verwirrt. Viele hatten einst Familie und Freunde – sie haben ihre Liebsten schlicht überlebt.

Und doch ist das Schicksal dieser einsam Verstorbenen Ausdruck der gleichen Unmenschlichkeit, denen die Soziologin Eva Illouz und der Psychiater Manfred Spitzer auf der Spur sind.

Wenn irgendwo von Alter und Wohlbefinden die Rede ist, dreht sich die Diskussion wie selbstverständlich um medizinische Fragen, um teure Apparate und Arzneien. Doch was Menschen am Ende ihres Lebens in erster Linie nötig haben, sind Aufmerksamkeit, Geduld, Zuneigung. Und wenn es keine Angehörigen mehr gibt, die ihnen Zeit schenken können, dann braucht es eben entsprechende Einrichtungen: Alters- und Pflegeheime mit ausreichend und gut bezahltem Personal.

Gerade dieses freilich fehlt. Vor zwei Wochen hat meine Kollegin Dana Liechti im SonntagsBlick die miserablen Arbeitsbedingungen unserer Alterspflegerinnen beschrieben. Viele von ihnen fühlen sich gestresst und schlecht entlöhnt. Wie, bitte schön, sollten sie sich da um die seelischen Bedürfnisse der ein­samen Heimbewohner kümmern?

Das Interdisziplinäre Kompetenzzentrum Alter der Fachhochschule St. Gallen arbeitet jetzt an einer Lösung für das Problem. Und nein, die Lösung besteht nicht darin, dass man einsamen alten Menschen genügend anständig bezahltes Pflegepersonal zur Verfügung stellt. Die Lösung heisst «Paro».

«Paro» wird bereits seit längerem bei der Behandlung von Demenzpatienten eingesetzt. Die Altersforscher der Fachhochschule St. Gallen testen die Methode neuerdings auch als sogenannte Aktivierungstherapie für Senioren, die unter Einsamkeit leiden.

«Paro» ist eine flauschig-weiche Seehundrobbe, die sich streicheln lässt, auf Geräusche reagiert, mit den Augen rollt und lustige Laute von sich gibt.

«Paro» ist ein interaktiver Roboter.

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