Zeit der Denunzianten
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BlickPunkt zu Corona-Bussen:Zeit der Denunzianten

BlickPunkt über Corona-Bussen
Zeit der Denunzianten

Die Polizei erhält ungewohnte Meldungen: Es geht um Verstösse gegen Maskenpflicht, 5er-Regel, Homeoffice- und Quarantänevorschriften. Die Denunzianten fühlen sich moralisch überlegen. Doch sie tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei.
Publiziert: 30.01.2021 um 01:20 Uhr
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Aktualisiert: 26.02.2021 um 21:24 Uhr
Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe

Einst war ich zu Gast in einem noblen Ferienhotel. Ich hatte leider nur nicht mitbekommen, dass die Herren dort zum Dinner Veston tragen müssen. Am zweiten Abend ermahnte mich der Chef de Service: Es habe Beschwerden gegeben, ich möge bitte an der Rezeption ein Jackett ausleihen. Ich fragte mich den ganzen Abend, wer wohl der Denunziant gewesen sein könnte.

Ganz ähnlich geht es derzeit vielen in der Schweiz, wenn plötzlich die Polizei oder ein Arbeitsinspektor vor der Tür steht: Es sei gemeldet worden, man habe mehr als fünf Gäste in der Wohnung, mehr Arbeitnehmer als nötig im Büro, einen Kunden im geschlossenen Laden gehabt ...

Ein BLICK-Leser schrieb mir von seinem Erlebnis bei einer Bahnfahrt ins Simmental: «Zwei junge Frauen sitzen nebeneinander (Abstand 60 cm!), die eine isst genüsslich und langsam den mitgebrachten Brei, beide nippen an ihren Getränkeflaschen bis kurz vor Zweisimmen und dies während 1 Std. 20 Min. ohne Maske!!! Wo bleibt da die Durchsetzung?»

Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe.
Foto: Shane Wilkinson

Und tatsächlich: Weil einzelne Passagiere extra lang auf ihren Sandwiches herumkauen, wird jetzt ein Ess- und Trinkverbot im öffentlichen Verkehr diskutiert – als ob man mit immer neuen Regeln irgendwann jedes Schlupfloch schliessen könnte!

Am Montag tritt eine lange Liste von Corona-Bussen in Kraft. Keine Maske: 100 Franken. Mehr als fünf Personen in der Wohnung: 200 Franken für den Gastgeber, 100 für jeden Gast. Mehr als fünf Personen draussen: 50 Franken pro Person. Und so weiter und so weiter.

Natürlich ist es nur konsequent, dass Corona-Verstösse auch geahndet werden – so wie es eine Busse setzen kann, wenn jemand bei Rot über den Fussgängerstreifen geht, die Nachtruhe stört oder falsch parkiert hat.

Zum Glück verfügen die allermeisten Polizisten in der Schweiz über ausreichend gesunden Menschenverstand, um zu wissen, wann eine Ermahnung genügt und wann sie einen Strafzettel ausfüllen müssen.

Dennoch werden die neuen Corona-Bussen dazu führen, dass sich die Denunzianten moralisch noch überlegener fühlen und mit noch mehr Freude vermeintliche oder tatsächliche Sünder melden.

SonntagsBlick-Reporter Tobias Marti ging der Geschichte des Denunziantentums nach und stellte fest: «Leute anzuschwärzen, ist ein alter Zeitvertreib. Die Pandemie verhilft dem Schmuddelkind der Geschichte zum Comeback. In der Krise platzieren Hilfssheriffs bei den Behörden Tausende Meldungen wegen angeblicher Corona-Verstösse.»

Gewiss, viele haben die Einschränkungen satt, die Nerven liegen blank. Doch in dieser angespannten Lage braucht es neben Disziplin beim Einhalten der Massnahmen auch ruhig Blut, wenn sich mal jemand nicht als Musterschüler zeigt. Alles andere führt zu einer noch grösseren Spaltung der Gesellschaft. Was das im Extremfall bedeutet, erleben dieser Tage die Menschen in Holland. Dort hat eine neue Ausgangssperre zu wüsten Strassenschlachten, Plünderungen und Angriffen auf Unbeteiligte geführt.

P. S. Der Chef de Service in meinem Ferienhotel klärte mich darüber auf, wieso sich Gäste am fehlenden Veston eines Mitgastes stören können. Die einen, weil sie einem vermeintlichen Verfall der Sitten entgegentreten wollen. Die anderen, weil sie es ebenfalls lästig finden, Veston zu tragen – und sich ärgern, wenn andere genau das tun, was sie sich selbst verkneifen.

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