40. Zürcher Theater-Spektakel
Wo die Stars starteten

Helge Schneider, Max Raabe und Michael Mittermeier füllen heute riesige Hallen. Doch zu Beginn ihrer Karriere haben sie klein, aber fein am Zürcher Theater-Spektakel aufgespielt. Eine Erfolgs-Bilanz zur 40. Ausgabe.
Publiziert: 05.08.2019 um 07:14 Uhr
Die amerikanische Performance-Künstlerin Laurie Anderson bei ihrem Konzert am Zürcher Theater-Spektakel 1982.
Foto: Keystone
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Daniel Arnet

Die Tränengasschwaden des Polizeiein­satzes auf dem ­Zürcher Sechseläutenplatz sind kaum verweht, da ­startet auf der Landiwiese am gegenüberliegenden Seeufer die erste Ausgabe des Theater Spektakels. Kein Monat ist seit dem Opernhaus-Krawall vom 30. Mai 1980 vergangen, da bespielen die ersten Schauspieltruppen des Festivals die Rote ­Fabrik – jenes zukünftige Zentrum für ­alternative Kultur, das die rebellierende Jugend forderte.

Am Anfang war das Theater Spektakel: Im grossen Saal der ­Roten Fabrik inszeniert Ende Juni 1980 ein gewisser Christoph Marthaler (jetzt 67) mit dem Stück «Indeed» sein erstes eigenes musikalisch-theatrales Projekt. Heute ist der Schweizer Regisseur, der von 2000 bis 2004 künstlerischer Leiter des Schauspielhauses Zürich war, einer der renommiertesten und höchst dotierten Bühnenschaffenden in der Theaterszene.

Und er ist bei weitem nicht der einzige Künstler, zu dessen Karriere­beginn ein Auftritt beim Theater Spektakel steht. Wer also dort eine Veranstaltung besucht, entdeckt immer wieder neue ­Namen, die erst später gross von sich reden machen. Die amerikanische Musikerin Laurie Anderson (72) singt dort 1982, im Release-Jahr ihres Debüt-Albums «Big Science». Heute ist Anderson eine der einflussreichsten Performance-Künstlerinnen weltweit. Die katalanischen Bühnen-­Berserker La Fura dels Baus wüten dort 1985 mit ihrem ersten Stück «Accions». 1992 eröffnen sie mit ­einer Show die Olympischen Sommer­spiele von Barcelona.

Offen und neugierig sein

Der deutsche Komiker Michael ­Mittermeier (53) zeigt dort 1996 sein erstes Programm «Zapped!» im kleinen Spiegelzelt Danspaleis. Heute füllt er das Hallenstadion und bringt Tausende mit Phrasen und Faxen zum Lachen.

Die Liste lässt sich mit zahl­reichen Namen aus Theater, Musik und ­Literatur erweitern – von Schauspieler Ulrich Tukur (1993) über Sänger Max Raabe (1994) bis zu Autor Max Goldt und Komiker Helge Schneider (beide 1991). Aus Schweizer Sicht seien die Kinder­liederband Schtärneföifi (1996), die Künstlergruppe 400asa (2000) und die pantomimischen Schrift-­Komiker Ohne Rolf (2004) genannt.

«Wir können sicher stolz sein, dass wir viele Künstlerinnen und Künstler sehr früh und sehr jung ­gezeigt und damit für das Publikum entdeckt haben», sagt Esther Schmid. Sie ist seit 1993 Kommunikationsverantwortliche des Theater Spektakels und war elf Jahre in der Programmgruppe. In dieser Funktion reiste Schmid viel herum, schaute sich an Ausbildungsstätten oder anderen Festivals Produktionen an, um sie allenfalls für ein Gastspiel im Spätsommer nach Zürich zu holen.

«Offen und neugierig sein und sich manchmal einfach auf das Bauchgefühl verlassen», umschreibt Schmid die Arbeit in der Programmgruppe. Die Reisetätigkeit ist eine Riesenarbeit. So war zum Beispiel Sandro Lunin (61), künstlerischer Leiter des Theater Spektakels von 2007 bis 2017, jährlich 200 Tage fürs Festival unterwegs und sah Hunderte Aufführungen. Die Qualität einer Produktion ist nur ein Faktor von vielen, die darüber entscheiden, ob sie das Zürcher Publikum zu sehen bekommt. ­Ausschlaggebend sind auch Budget, Programmstruktur, zeitliche Verfügbarkeit und technische Gegebenheiten.

Knapp 30 000 Eintritte pro Saison

Etwa 40 unabhängige Theatergruppen oder Einzelkünstler kommen jährlich nach Zürich. Die 26 000 bis 29 000 Eintrittskarten für die rund 140 kostenpflichtigen Aufführungen finden jeweils reissenden Absatz: Die durchschnitt­liche Auslastung der Vorstellungen liegt bei über 80 Prozent – ein Wert, von dem jedes institutionelle Theate­rhaus nur träumen kann.

«Immer wieder loben die Auftretenden das sehr offene, stets ruhige und äusserst aufmerksame Publikum», sagt Schmid. Das Publikum seinerseits ist dankbar, denn es weiss längst: Es bekommt im kleinen Rahmen erstmals etwas zu ­sehen, wofür später womöglich die Massen schwärmen.

Und wenn eine Vorstellung für einmal weniger überzeugend sein sollte – nicht so schlimm: Die Bars und Restaurants auf dem Festivalgelände lassen jeden Frust fein ­runterspülen. Die idyllische Gastro­szene mit Lichtgirlanden direkt am See zieht aber weit mehr Leute als bloss die Theatergänger an – rund 120 000 Besucher Jahr für Jahr.

Vom 15. August bis 1. September wird das 40. Zürcher Theater Spektakel über die Bühne gehen – ein gestandenes Jubiläum. Was 1980 mit drei Zirkuszelten auf der Landiwiese und dem Theatersaal in der Roten Fabrik begann, ist heute ein Grossanlass mit mehreren temporären Bauten, die so massiv sind, dass sie ewig dort stehen könnten.

Wiesenfotograf des Zürcher Theater Spektakel

Christian Altorfer (68) ist der Einzige, der über all die Jahre professionell beim Theater Spektakel ist. Nach der Ausbildung am Lehrerseminar wollte der Zürcher Fotograf werden. 1980 sagte ihm jemand: «Geh nach Wollishofen, dort ist ­etwas auf der Wiese.» Seither ist er Hof- oder ­besser gesagt Wiesenfotograf des Festivals – beinahe jede Vorstellung hat er abgelichtet. Weit über tausend Schauspielkompanien agierten schon vor seiner Linse.

Sieht er bei Newcomern jeweils gleich, dass die dereinst gross rauskommen? Nur ein Mal sei es ihm so ergangen, sagt Altorfer, als der deutsche Regisseur Stefan Pucher 1997 für die Produktion «Dream-­city» mit seiner Videokamera durch eine Ansammlung von Kartonschachteln fuhr und die in der ­Live-Projektion an der Wand als Hochhäuser erscheinen liess.

«Das war faszinierend», sagt Altorfer, «und ich war gespannt darauf, was von Pucher noch zu sehen sein wird.» Die Fortsetzung folgte bald: Von 2000 bis 2004 war Pucher (54) Hausregisseur im Schauspielhaus Zürich – unter dem künstlerischen Leiter Christoph Marthaler.

Das Potenzial der Künstler früh erkannt

Solche Kooperationen wie bei Marthaler und Pucher führen nicht nur über das Theater Spektakel ­hinaus, sie haben es erst möglich gemacht. Altorfer erkennt im Festival demzufolge eine Veranstaltung von ähnlich Gesinnten: «Nicht das Theater Spektakel formt die Künstler, die Künstler selbst machen das Spektakel.» Und die seien nicht aus dem Nichts ­­gekommen: «Die Festi val­leitung erkannte lediglich früh deren ­Potenzial», sagt Altorfer.

Entsprechend sieht er im Theater Spektakel auch nicht ein Sprungbrett für eine kommende Künstlerkarriere. Esther Schmid pflichtet ihm bei: «Für eine Karriere braucht es sicher mehr als nur einen Auftritt an ­einem Festival», sagt sie. «Aber wir haben ­bestimmt gewisse Entwicklungen ­gefördert.»

Dabei verweist Schmid auf die 2012 eingeführte Plattform «Short Pieces». Dort dürfen sich New­comer mit einem Kurzauftritt vor Publikum üben. Die eine oder andere Künstlerin habe dadurch den Sprung auf die grosse Bühne geschafft. Schmid nennt die philippinische Tänzerin Eisa Jocson (33) und die südkoreanische Performerin Jeong Geumhyung (39).

Aber selbst wenn in den meisten anderen Fällen das Theater Spektakel kein Sprungbrett ist und auch nicht direkt Karrieren fördern kann, Fakt ist: Viele heutige Stars traten zu Beginn ihres steilen Aufstiegs an den Gestaden des Zürichsees auf. Das hat sicher zu tun mit den guten Riechern der künstlerischen Leiter Jürg Woodtli (1980–1989), Markus Luchsinger (1990–2001), Maria Magdalena Schwaegermann (2002–2006), Sandro Lunin (2007–2017) und Matthias von Hartz (seit 2018).

Doch sie mögen noch so fein­sinnige Nasen haben, wenn sie am ­falschen Ort rumschnüffeln, finden sie nichts. Deshalb ist das gute Netzwerk entscheidend, welches das Theater Spektakel seit Jahren mit Ausbildungsstätten wie etwa dem DasArts in Amsterdam, den Sophiensälen in Berlin oder dem Studio Kabako in Kisangani (Demokratische Republik Kongo) pflegt. Speziell Sandro Lunin hat die  Fühler Richtung Afrika aus­gestreckt.

Das Publikum erwartet etwas anderes

Einen neuen Akzent setzt der ­aktuelle künstlerische Leiter ­Matthias von Hartz (49) mit Schwerpunktprojekten, die es dem ­Pu­blikum ermöglichen, verschiedene Facetten eines Kunstschaffenden zu erleben. Dieses Jahr kann man mit dem französischen Tänzer und Choreografen Boris Charmatz (49) an verschiedenen Veranstaltungen diskutieren, tanzen oder einfach nur einen beschaulichen Theaterabend verbringen.

Dieses konsequente Begehen neuer Wege ist nicht ohne Risiko. «Wenn wir auf Marke sicher gehen möchten, dann müssten wir ­einfach das einladen, was Mainstream ist und bereits Erfolg hat», sagt Schmid. «Ich glaube aber nicht, dass wir mit diesem Rezept 40 Jahre überlebt hätten, denn das Publikum erwartet etwas anderes vom und am Theater Spektakel.»

Das will sich vor allem überraschen lassen und später mit Freude sagen können: «Wir waren dabei, als der Star am Start war.»

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