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Belarussin (24) über Proteste in Minsk
«Meine Schwester wurde grundlos verhaftet – niemand darf sie besuchen»

Seit der Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko (65) am Sonntag gehen die Menschen jede Nacht auf die Strasse. Demonstrantin Lara G. (24) spricht mit BLICK über die Proteste, die Verhaftung ihrer Schwester und wie es jetzt weitergehen muss.
Publiziert: 12.08.2020 um 23:02 Uhr
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Aktualisiert: 13.08.2020 um 12:01 Uhr

Lara G.* ist gerade auf dem Weg zu einem friedlichen Protest in Minsk, als BLICK sie kontaktiert. Hunderte weiss gekleidete Frauen halten sich in einer langen Kette gegenseitig die Hände. Sie alle stehen zusammen – gegen die Wiederwahl des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko (65).

Seit drei Nächten geht G. nun auf der Strasse, steht immer im Zentrum der Demonstrationen. «Mein typischer Tagesablauf sieht jetzt so aus, dass ich morgens gegen 3 Uhr nach Hause komme. Dann versuche ich, ein paar Nachrichten zu lesen.» Gegen Mittag wache sie auf, arbeite von zu Hause aus und zieht abends wieder auf die Strasse.

Schwester auf dem Heimweg nach der Arbeit verhaftet

Die 24-Jährige hat gemischte Gefühle: «Stolz, Schrecken, Wut und Einigkeit. Es ist unglaublich, wie mutig die Menschen sind. Die Verluste sind aber erschreckend. Ebenso der Gedanke, dass wir unter diesem Regime weiterleben müssen.»

Die 24-jährige Lara G. ist bereits seit drei Tagen auf den Strassen der belarussischen Hauptstadt Minsk am Demonstrieren.
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Lara G. weiss, über was für Verluste sie spricht: Kurz nach dem Protest ist sie auf dem Weg zu ihrer Schwester Hanna* (20), die am Vorabend verhaftet wurde. «Ich bringe ihr etwas zum Essen», sagt sie. Unzählige Menschen sind in Haftanstalten eingepfercht, mindestens ein Demonstrant ist ums Leben gekommen. Aus Angst, ebenfalls hinter Gittern zu landen, möchte die Belarussin deshalb ihren Namen nicht veröffentlichen.

«Hanna war auf dem Heimweg mit den Kollegen von ihrem Büro, als vier von ihnen festgenommen wurden – ohne Grund», sagt G. «Sie schaffte es, mich anzurufen. Ich hörte Polizisten am Telefon sprechen, also wusste ich, dass sie verhaftet wird.»

In diesem Moment handelte sie, anstatt zu fühlen. «Ich rief unsere Eltern und Menschenrechtler an und versuchte, Einzelheiten von den Kollegen zu erfahren, mit denen sie zusammen war. Es gelang uns, herauszufinden, wo genau sie festgehalten werden.» Aber: Niemand darf sie besuchen oder mit ihr sprechen. Nur Fresspakete sind erlaubt.

Internet-Sperre hat auch Vorteile

Auch die Kommunikation ist massiv erschwert. Lukaschenkos Regime versucht, die Verbindung zur Aussenwelt zu kappen – und schränkt das Internet ein. Hauptkanal der Demonstranten ist der Nachrichtendienst Telegram. «Einerseits verlangsamt das die Verbreitung von Informationen und erschwert die Koordinierung der Aktionen», so G. «Andererseits bedeutet es aber auch, dass alles, was die Menschen tun, erst kurz vor dem Protest bekannt wird. So weiss die Regierung nicht, worauf sie sich vorbereiten muss und kann nur schwer darauf reagieren.»

Die Demonstrationen haben keinen Anführer. «Die Menschen gehen in die Stadt hinaus und entscheiden dann, welchen Protesten sie sich anschliessen.» Dementsprechend sind Aktionen dezentralisiert.

Proteste gehen auch ohne Oppositionsführerin Tichanowskaja weiter

Dass Swetlana Tichanowskaja (37), die Kandidatin der Opposition, nach Litauen geflüchtet ist, habe einige enttäuscht, meint G.: «Die Mehrheit hat dies aber verstanden. Es ist ganz offensichtlich, dass sie gezwungen wurde, das Video aufzunehmen. Wir wissen nicht, womit sie ihr gedroht haben.» Die Demonstrantin meint damit die Aufnahme, in der Tichanowskaja ihre Niederlage öffentlich anerkennt.

«Sie hat getan, was sie tun konnte. Dass sie gegangen ist, hat nicht wirklich etwas daran geändert, wie die Proteste weitergingen», so G. Tichanowskaja habe zwar dazu beigetragen, viele Menschen im Land zu vereinen. Aber: «Sie hat die Strassenproteste nie wirklich geleitet, geschweige denn koordiniert. Diese wurden von Bürgern initiiert.»

Wie geht es in Belarus nun weiter? «Ich denke, es geht jetzt um Sieg oder Niederlage», sagt Lara G. «Aber wenn ich mir die Menschen neben den Haftanstalten ansehe und mir anhöre, was Protestler unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen auf den Strassen sagen, glaube ich nicht, dass wir es einfach so belassen können, wie es jetzt ist.» (szm)

*Namen geändert

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