Carles Puigdemont schreibt exklusiv für SonntagsBlick
«Die Katalonien-Krise geht uns alle an!»

Die Katalonienkrise ist neu entflammt. Jetzt äussert sich der Separatistenführer Carles Puigdemont in einem exklusiven Gastbeitrag im SonntagsBlick. Er kritisiert die EU und warnt davor, dass die Demokratie Schaden nimmt.
Publiziert: 26.10.2019 um 19:18 Uhr
|
Aktualisiert: 02.03.2020 um 11:58 Uhr
Kataloniens ehemaliger Regionalpräsident Carles Puigdemont
Foto: AFP
1/7
Carles Puigdemont

Im Herbst 2017 begann Katalonien seine Reise in Richtung unabhängige Republik. Es war für alle deutlich zu sehen, dass es sich nicht nur um die Idee einiger Verrückter handelt, sondern um die Antwort auf eine demokratische Entscheidung, die von ­einer breiten Basis der Bevölkerung getroffen wurde. ­Einer Bevölkerung, die immer ­offen gewesen ist für Dialog und Konsens.

Es war uns klar, dass es ein schwieriger Weg sein würde. Wir wussten aber auch, dass es der einzige Weg nach vorne war, wenn wir als Gesellschaft überleben wollten. Alle Bemühungen, mittels Dialog eine Einigung zwischen Kata­lonien und Spanien zu erreichen, waren gescheitert. 40 Jahre lang hatte Katalonien auf diesen Dialog gesetzt.

Heute sind wir uns sogar noch sicherer, dass das Unabhängigkeitsreferendum von 2017 das einzig Richtige war. Unter dem Vorwand der heiligen Suche nach ­Einigkeit hat der spanische Staat den Entscheid der ­katalanischen Bevölkerung mit einer Welle der Unterdrückung beantwortet. Spanien hat die Politik missachtet und die Verantwortung für die Lösung des Konflikts jenen Strafgerichten übertragen, die in ganz Europa als die am wenigsten unabhängigen angesehen werden.

Im Juli publizierte die ­Europäische Union einen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit. Der Bericht basierte auf einer Befragung von Bürgern in allen 28 Mitgliedstaaten. 77 Prozent der Spanier zweifelten an der Unabhängigkeit ihrer Gerichte. Bei den Dänen waren es 15 Prozent, bei den Deutschen 35 Prozent. Damit schneidet Spanien als das zweitschlechteste EU-Land ab, gleich nach Zypern.

«Nicht nur Anführer wurden verurteilt, sondern sämtliche 2,3 Millionen Einwohner»

Was sind die Folgen ­eines unzulänglichen politischen Systems und einer in hohem Mass politisierten Justiz? Richtig, wir sehen die Folgen in ganz Katalo­nien: Es sind die massiven ­Reaktionen gegen die autoritäre Tendenz in Madrid. Hier wurde nicht nur eine Gruppe politischer und sozialer Anführer verurteilt, sondern sämtliche 2,3 Millionen Einwohner, die sich am 1. Oktober 2017 am Referendum beteiligt hatten.

So ist es klar, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, gepflastert mit Mühsal und Leid. Die vor wenigen Tagen verkündeten Urteile, nämlich zwischen neun und 13 Jahren Gefängnis für die Organisation des Referendums, sind eine klare Botschaft des spanischen Staates, der zwar den Diktator Francisco Franco, nicht aber sein Vermächtnis zu Grabe getragen hat.

In seiner irrigen Rede vom 3. Oktober 2017 erneuerte der König von ­Spanien das Mandat des ­faschistischen Diktators an seinen Vater, König Juan Carlos I., als Franco auf ­seinem Totenbett zu Carlos sagte: «Das Einzige, worum ich dich bitte, ist die Einheit Spaniens zu erhalten.» Für das Regime von 1978 war Einheit wichtiger als ­Freiheit, Demokratie und friedliche Koexistenz.

Franco hinterliess damit eine fest verwurzelte Ma­xime, die vom politischen und juristischen System Spaniens bis zum heutigen Tag aufrechterhalten wird. Die jüngsten Urteile des Obersten Gerichts in Ma­drid lassen daran keinen Zweifel aufkommen.

Wir hatten alle möglichen Alternativen versucht, bevor wir die Op­tion eines unabhängigen Staates in Betracht gezogen haben. Eine verbesserte Selbstverwaltung, neue Steuerbeziehungen mit dem Staat, eine unverbindliche Konsultation zur Meinungsermittlung innerhalb der katalanischen Bevölkerung – keine dieser Optionen wurde akzeptiert. Sämtliche Versuche wurden zurückgewiesen. Sogar das Autonomiestatut, das einst mit einer grossen Mehrheit vom katalanischen wie auch vom spanischen Parlament gutgeheissen wurde, hat das Verfassungsgericht über den Haufen geworfen.

Auch heute lässt sich der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez nicht dazu herab, das Telefon abzunehmen, wenn der Präsident der katalanischen Regierung ihn anruft. Wir sind mit einer strukturellen Unfähigkeit des spanischen politischen Systems konfrontiert, die einen Kompromiss unmöglich macht. Die Vorstellung eines Paktes, eines Abkommens, das Konzessionen erfordern würde, wird in der politischen Kultur Spaniens, die vom Erbe des Imperialismus und von Franco geprägt ist, noch immer als ein Zeichen von Feigheit ­gesehen.

Was würden Sie tun, wenn alle Türen zu einem Dialog geschlossen werden? Auch Sie würden in ­einer solchen Situation die Würde Ihres Landes verteidigen! Genau dies tun wir. Wir kämpfen nicht bloss für eine unabhängige Republik, wir verteidigen die Demokratie. Das ist der beste Weg, unsere Würde zu verteidigen.

Und was ist mit der ­Europäischen Union? Es schmerzt mich, einzuge­stehen, dass die politischen Institutionen Europas dem Geschehen tatenlos zusehen. Die EU lässt zu, dass die Polizei eines ihrer Mitgliedstaaten Gewalt gegen dessen Bürger ausübt. Das europäische Staatenbündnis erlaubt es Spanien, die Tagesordnung zu bestimmen, und verschliesst die Augen vor der beschämenden Tatsache, dass drei Mitglieder des Europäischen Parlaments, die über zwei Millionen Stimmen erhalten hatten, ihre Sitze nicht einnehmen dürfen.

Die Überzeugung, dass Abstimmungen die Grundlage einer Demokratie sind oder dass die Meinung des Volkes heilig ist, wird auf ­irreparable Weise Schaden nehmen, wenn wir weiterhin daran gehindert werden, unser Mandat auszuüben.

Wenn Sie es nicht als wichtig erachten, dass die siegreiche Wahlliste der europäischen Wahlen in Katalonien, an deren Spitze ich stand, weiterhin ohne Repräsentation dasteht, heisst dies, dass die Europäische Union die Tatsache akzeptiert, dass dieses Schlüsselprinzip der Demokratie nicht länger unantastbar ist. Dieses fest verankerte Prinzip setzte einst den Standard für Frieden und Freiheit für den Rest der Welt. Darüber hinaus büsst die EU für Länder wie die Schweiz, wo der Wille des Volkes die Grundlage des gesamten Systems bildet, an Attraktivität ein.

Deshalb halten wir da­ran fest, dass die katalanische Krise eine europäische Angelegenheit ist, auch wenn Brüssel weiterhin den Blick abwendet.

Die Version dieses Artikels in englischer Sprache finden Sie hier.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?