Auswertung zu Pflegeheimen
Hunderte Senioren am Bett fixiert

Noch immer sind in Schweizer Heimen ältere Menschen «sicherheitshalber» ans Bett gebunden, Tausende können sich wegen Bettgittern nicht frei bewegen. Das ist gefährlich und meist gar nicht nötig.
Publiziert: 04.08.2024 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 06.08.2024 um 15:59 Uhr
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Vanessa MistricRedaktorin

Was lange als normal galt, ist heute verpönt: Fixiergurte und Bettgitter, die Bewohnerinnen und Bewohner in Alters- und Pflegeheimen daran hindern, ihr Bett oder den Rollstuhl zu verlassen. Betroffene fühlen sich eingesperrt und isoliert, ihr Leben wird eintönig. Weil sie sich kaum noch bewegen, werden sie gebrechlicher und bauen auch geistig ab. Versuchen die Senioren, sich zu befreien, können sie über die Gitter fallen und sich etwas brechen, in einem schlecht befestigten Gurt verheddern oder sich gar mit diesem strangulieren.

Trotzdem gibt es in der Schweiz immer noch Pflegeheime, die die Betreuten häufig angurten oder hinter Bettgitter stecken. Das zeigt eine Auswertung von Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG) durch Blick. Das Amt veröffentlichte kürzlich eine Liste mit rund 1300 Institutionen. Dort ist für jedes Heim ersichtlich, wie viele Bewohnerinnen und Bewohner im Jahr 2021 über einen längeren Zeitraum angegurtet oder mit Bettgittern daran gehindert wurden, eigenständig aufzustehen.

Die Daten zeigen: In einem Grossteil der Heime kamen die Pflegenden ohne Gurte und Gitter aus oder verwendeten sie nur selten. Etwa 80 Schweizer Heime schränkten jedoch ganze 10 Prozent der Bewohner ein, 15 Heime gar 20 bis 50 Prozent.

Romandie und Tessin schneiden schlecht ab

In privaten Pflegeheimen in der Westschweiz und im Tessin wurden Bettgitter und zum Teil auch Gurte besonders häufig eingesetzt. Schweizweit hatten 2021 mindestens 3300 Seniorinnen und Senioren ein Bettgitter, mindestens 680 wurden mit einem Gurt fixiert. Bewohner, die sich solche Einschränkungen wünschten, wurden nicht gezählt.

Für Fachleute gehören Fixiergurte nicht in ein Pflegeheim.
Foto: imago/epd
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Pflegeheime dürfen nur in Ausnahmen Gitter und Gurte anbringen, wenn die Betroffenen diese nicht explizit wünschen. Dies bei Personen mit eingeschränkter Urteilsfähigkeit – Dementen etwa – aber nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, um eine ernsthafte Gefahr oder schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens abzuwenden.

«Wenn Heime bei 20 oder gar 50 Prozent der Bewohnenden Bettgitter verwenden, wirft das Fragen auf», sagt Albert Wettstein, Vorsitzender der Unabhängigen Beschwerdestelle für ältere Menschen in Zürich. Manchmal könne ein Gitter zwar Sinn machen. Ein übermässiger Einsatz sei jedoch «nicht tolerabel». Fixationsgurte würden moderne Pflegeheime gar nicht mehr aus dem Keller holen.

«Würde und Selbstbestimmung müssen besonders geschützt werden», betont auch Christina Zweifel vom Branchenverband Curaviva. Wenn ein Pflegeheim in einem bestimmten Jahr schlecht abschneide, sage das noch nicht zwingend etwas über die Qualität der Pflege aus. Wichtig sei aber, dass das Heim die Probleme angeht und behebt.

Angehörige wünschen Gitter und Gurte

Wie das geht, zeigt ein Beispiel: Die Tertianum AG mit über 90 Standorten in der Schweiz verspricht «grösstmögliche Autonomie und Selbstbestimmung». Doch am Standort in der «Residenza al Lido» in Locarno hatten mehr als die Hälfte der 57 Bewohnenden ein Bettgitter. «Das war gut gemeint, oft wünschten sich auch die Angehörigen Bettgitter», sagt Marion Helbling, Co-Leiterin Pflege der Tertianum-Gruppe. «Die Pflegenden wollten verhindern, dass ältere Menschen mit kognitiven Einschränkungen stürzen, zum Beispiel wenn sie aufstehen oder eine Treppe herunterlaufen.»

Laut Helbling ist es der Tertianum AG inzwischen gelungen, dass die Mitarbeitenden der «Residenza al Lido» auf Bettgitter verzichten. «Wir haben in Schulungen aufgezeigt, dass es langfristig besser ist, die Muskeln und Balance gezielt zu trainieren, die Umgebung so einzurichten, dass möglichst wenig passieren kann, und zu schauen, dass die Menschen sich möglichst ausgewogen ernähren und ausreichend trinken.»

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Andere Pflegeheime nennen ähnliche Gründe für Gitter und Gurte. Gerade bei Senioren mit Demenz werden oft Gurte oder Gitter eingesetzt, wenn sie viel umherirren, andere stören oder ausfällig werden.

Fixiert, weil die Zeit für die Pflege fehlt

Franziska Zúñiga erklärt, oft würden gerade im Tessin Angehörige auf Bettgittern insistieren. Die Pflegewissenschaftlerin der Universität Basel hat die Erhebung der Daten wissenschaftlich begleitet. Sie hat auch eine Erklärung für das schlechte Abschneiden von Westschweizer Heimen: Einige hätten bisher aus technischen Gründen noch keine gute Übersicht gehabt, wie häufig sie die Gitter und Gurte einsetzen.

Ein grosses Problem seien der Fachkräftemangel und fehlende Ressourcen. «Meistens gibt es viele Möglichkeiten, um auf Bettgitter und Fixationen zu verzichten», sagt Zúñiga. Die Mitarbeitenden bräuchten aber genug Zeit, Fachwissen und Kreativität, um auszuprobieren, was funktioniere. «Und die Leitungen der Pflegeheime müssen klar sagen: Wir probieren alles, um auf Bettgitter und Fixationen zu verzichten.»

Bewegung hilft gegen Unruhe

Statt eines Gitters könnten zum Beispiel tiefe Betten und Matratzen am Boden verhindern, dass Seniorinnen und Senioren stürzen und sich verletzen. Bevor ein Heim sturzgefährdete Bewohner am Rollstuhl fixiert, sollte es Gurte einsetzen, die sich öffnen lassen, die Seniorinnen und Senioren stabilisieren und sie daran erinnern, vorsichtig zu sein.

Bei ruhelosen Senioren, die das Personal auf Trab halten, steckt laut Fachleuten oft mehr dahinter als nur die Demenz: fehlende Bewegung, Langeweile, Einsamkeit oder auch Ängste oder Schmerzen. Curaviva empfiehlt beispielsweise Spaziergänge und gemeinsames Singen und Tanzen.

Immer mehr problematische Beruhigungsmittel

Pflegeexperte Wettstein macht sich auch Sorgen, dass viele Heime heute zwar auf Gitter und Gurte verzichten, stattdessen aber zunehmend Beruhigungsmittel einsetzen. Und dies oft über Monate hinweg. Tatsächlich schluckt rund jeder zweite Demente in Pflegeheimen Antipsychotika, wie das Gesundheitsobservatorium Obsan im Juni kritisierte – 9 Prozent mehr als noch 2016.

«Bei einer gut organisierten Pflege ist es nicht nötig, Menschen mit diesen Medikamenten ruhigzustellen», sagt Wettstein. Die Nebenwirkungen seien gravierend: eine Verdoppelung des Sturzrisikos, Hirnschlagrisikos und Sterberisikos. Die Demenz werde schlimmer, die Betroffenen würden keinerlei Freude empfinden: «Sie spüren nichts mehr. Der Tag ist nur noch grau.»

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