«Firmen wollen die Kinder ermutigen, ihre Eltern zu nerven»
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Psychologin Susan Linn (75):«Firmen wollen Kinder ermutigen, ihre Eltern zu nerven»

Das dicke Geschäft mit Videos für Kleinkinder
So verführen die Macher von «Baby Shark» unsere Kleinen

Sechs der zehn populärsten Youtube-Videos richten sich an Kinder um die 2 Jahre. Dahinter steckt ein unbekanntes Milliarden-Business – mit Folgen für unseren Nachwuchs.
Publiziert: 22.01.2023 um 17:48 Uhr
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Aktualisiert: 23.01.2023 um 15:03 Uhr
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Die erste Strophe des erfolgreichsten Video-Clips aller Zeiten beginnt so: «Baby Shark, duu duu duu duu duu duu.»

Die zweite Strophe: «Mommy Shark, duu duu duu duu duu duu.»

Wir ersparen dir die dritte Strophe.

Er ist der Chef von Baby Shark: Kim Min-soek, CEO von The Pinkfong Company, welche die Rechte am erfolgreichsten Youtube-Video aller Zeiten besitzt.
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Für Erwachsene ist «Baby Shark» ein Folterinstrument. 2020 verurteilte ein Gericht im US-Bundesstaat Oklahoma zwei Gefängniswärter, weil sie Insassen während Stunden mit dem Kinderlied beschallt hatten. Die Anwälte nannten das «rücksichtslos, verdorben und sadistisch».

Kleinkinder aber können davon nicht genug bekommen. Stand letzte Woche hat «Baby Shark» 12,08 Milliarden Klicks. Es ist das mit Abstand beliebteste Video auf der Plattform Youtube.

Der Clip zeigt zwei asiatische Kinder, die vor einer im Comic-Stil animierten Unterwasserwelt eine Haifisch-Choreografie tanzen. Dazu singen sie … Sie wissen schon.

Wieso sind diese Videos so beliebt?

«Baby Shark» steht für ein Multimilliarden-Dollar-Phänomen. Sechs der zehn meistgeschauten Videos auf Youtube richten sich an Kleinkinder um die zwei Jahre. Sie kommen zusammen auf fast 40 Milliarden Views – und basieren alle auf einer ähnlichen Machart: einfache Melodien, animierte Figuren, wenig Text. Doch wieso sind sie derart beliebt? Was macht das mit den Kindern? Und wer produziert diese Kinderunterhaltung weshalb?

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«Es geht immer um Profit und nie ums Kindeswohl».
US-Psychologin Susan Linn, Harvard
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Für die US-Psychologin Susan Linn (75), die an der amerikanischen Elite-Universität Harvard unterrichtet, haben die Filmchen einen gemeinsamen Nenner: «Es geht immer um Profit und nie ums Kindeswohl.» Linn hat im September ein Buch über den Einfluss der Werbeindustrie und der grossen Tech-Firmen auf die Erziehung von Kindern geschrieben («Who’s raising the kids?»). Ihr Urteil ist vernichtend: «Wir sagen immer, Kinder sollen nicht mit Fremden reden. Aber die wahren Fremden sind jene, die Algorithmen kreieren und solche Filme auf die Kinder loslassen – ohne dass die Eltern wissen, was sie bewirken.»

Es gibt Experten, die es etwas weniger dramatisch sehen als Linn. Klar und völlig unbestritten ist aber: Die Profit-Möglichkeiten beim Zielpublikum Kleinkinder und Babys sind fast grenzenlos. Alleine in den USA verfügen Eltern von Kids unter zwölf Jahren gemäss Schätzungen über eine Kaufkraft von 1,2 Billionen Dollar. Ein immenser Markt potenzieller Werbekunden für die Google-Tochter Youtube.

Auch die Hersteller der Filmchen kassieren ab. «Baby Shark» hat längst auch eine eigene «Baby-Shark»-Netflix-Serie. Dazu kommen Tausende von Merchandising-Produkten. Beim Onlinehändler Amazon ist «Baby Shark» die Nummer eins in der Kategorie «Spielsachen und Spiele». Und Kim Min-soek, CEO des koreanischen Unternehmens, das «Baby Shark» produziert, würde gerne Freizeitparks bauen, wie er der australischen Zeitung «The Sydney Morning Herald» sagte.

Die Wirkung der Filme geht über die Kindheit hinaus, sagt Linn: «Kinder sind künftige Konsumenten. Es gibt Studien, die zeigen, dass wir auch als Erwachsene mögen, was wir schon als Kinder konsumierten.» Nicht nur Werbekunden und Filmproduzenten, sondern auch Plattformen wie Youtube wollten deshalb Kinder an sich binden, so Linn.

Google verweist auf Anfrage auf seine Richtlinien zum Schutz von Kindern. Dort steht: «Inhalte, die das emotionale und körperliche Wohlbefinden Minderjähriger gefährden, sind auf Youtube nicht erlaubt.»

Das Geheimnis hinter einem lächelnden Kind

Doch wieso lieben Kleinkinder, was Erwachsene hassen? Das erste Erfolgsgeheimnis lautet: Wiederholung. Psychologin Linn sagt: «Kleinkinder lieben Repetition.» Wenn Kinder die Gesichter ihrer Eltern immer wieder sehen, beginnen sie irgendwann zu lächeln. Dasselbe geschieht, wenn Kinder immer wieder «Baby Shark, duu duu duu duu duu duu» hören.

Was gibt es für Eltern Schöneres als ein lächelndes Kind? Und gibt es etwas Schlimmeres als ein quengelndes Kind?

Hier liegt die zweite Erfolgsformel: 1998 veröffentlichte das amerikanische Marktforschungsinstitut Western Media International eine Studie mit dem Titel «The Nag Factor», übersetzt «Der Quengel-Faktor». Es ist eine Anleitung für die Werbeindustrie, wie man Kleinkinder dazu bringt, nach einem Produkt zu verlangen.

Die Methode ist alt, die Möglichkeiten haben sich seither vervielfacht. Teilten früher Kinder verschiedener Altersgruppen ein TV-Gerät und damit eine Kindersendung, werden heute auch zweijährige Kinder zu einer segmentierten Kundengruppe, deren Bedürfnisse punktgenau evaluiert und erfüllt werden können.

Wie das geht, zeigt ein Bericht der «New York Times» über die Produktionsfirma Moonbug aus dem letzten Jahr. Sie ist der Gigant unter den auf Kleinkindern spezialisierten Entertainment-Firmen. Sie durchforstet das Netz nach Produktionen, die erfolgversprechend sind, kauft sie auf und entwickelt sie weiter.

Um herauszufinden, was Kleinkinder mögen, testen die Spezialisten ihre Produkte wie folgt: Ein Kleinkind, zwei Bildschirme. Auf einem läuft ein Moonbug-Film. Auf dem zweiten eine langweilige Endlosschleife einer alltäglichen Handlung. Schaut das Testkind rüber, wird die Stelle im Kinderfilm markiert – und die Produzenten wissen, dass sie etwas anpassen müssen. «Wir können so genau feststellen, wann sie abgelenkt werden», sagt ein Moonbug-Mitarbeiter.

Vor einem Jahr wurde Moonbug von einem US-Unterhaltungskonzern für 3 Milliarden Dollar gekauft.

Verdacht: Die Videos verändern das Hirn von Kleinkindern

Was macht das alles mit Kindern? Langzeitstudien zur Auswirkung von übermässigem Konsum auf das Gehirn von Kleinkindern sind bislang rar. Ein abschliessendes Urteil lässt sich noch nicht bilden. Doch neueste Untersuchungen alarmieren Experten wie Susan Linn. Im letzten November veröffentlichte das wissenschaftliche Journal «Nature» eine Studie, die einen Zusammenhang zwischen Veränderungen im Hirn und starkem Social-Media-Konsum von Kindern im Vorschulalter herstellt.

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«Je mehr Zeit Vorschulkinder täglich vor einem Bildschirm verbringen, umso häufiger leiden sie unter Schlafstörungen, wie z. B. Einschlaf oder Durchschlafproblemen»
«Adele»-Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums
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Besser erforscht ist die Auswirkung von Bildschirmkonsum auf das Verhalten von Kindern. Die Adele-Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums, die den Medienumgang von Kindern im Vorschulalter untersuchte, kommt zum Schluss. «Je mehr Zeit Vorschulkinder täglich vor einem Bildschirm verbringen, desto häufiger leiden sie unter Schlafstörungen, wie z. B. Einschlaf- oder Durchschlafproblemen», so die Autoren. Auch Übergewicht gilt als belegtes Risiko von intensivem Bildschirm-Medienkonsum.

Im internationalen Vergleich schneiden Schweizer Kinder gemäss der Studie beim Medienkonsum zwar gut ab. Die tägliche Bildschirmzeit beläuft sich auf «nur» 56 Minuten. Es gilt jedoch: Je tiefer der Bildungsgrad der Eltern, desto mehr Screen-Time.

Für Expertin Linn ist es aber so oder so der falsche Ansatz, die Verantwortung auf die Eltern zu schieben. Sie sagt, es gebe nur einen Weg: Den Tech-Unternehmen müsse es gesetzlich verboten werden, Kleinkinder mit manipulativen Methoden anzusprechen.

«Baby Shark, duu duu duu duu duu duu.»

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