Emil Steinbergers Sketch über das «Chileli vo Wasse»
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Er machte es berühmt:Emil Steinbergers Sketch über das «Chileli vo Wasse»

Die traurige Geschichte des Kirchleins von Wassen
«Man wird fast nostalgisch, wenn man die Züge wieder sieht»

Früher war die Kirche von Wassen auf der einstigen Gotthard-Bahnstrecke ein Symbol für Fernweh, Reiselust und für die Wunder schweizerischer Ingenieurskunst. Heute sehnt man sich im Dorf in diese Zeit zurück.
Publiziert: 26.08.2023 um 18:02 Uhr
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Aktualisiert: 26.08.2023 um 18:57 Uhr
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Es gibt einige wunderschöne Flecken in der Schweiz. Und es gibt einige wunderschöne Friedhöfe, stille Orte, an denen man denkt: Hier würde ich gern für alle Ewigkeit liegen, und falls mal ein paar Nachfahren vorbeikommen und an mich denken, dann tun sie das an einem Ort, wie es kaum einen schöneren für die letzte Ruhe geben könnte. Und darin liegt dann vielleicht eine Art Trost. Oder sie kommen einfach, weil es schön ist, und denken dann vielleicht auch grad noch ein wenig an mich, so als Bonus. Ein solcher Ort, hochgelegen, sonnenbeschienen, mit so wunderbarer Aussicht auf Täler, Hügel und Berge, dass einem die Brust weit wird und man über die Täler gegen die Berge jauchzen will, ist der Friedhof der Kirche von Wassen UR.

Sie kennen es natürlich, das «Chileli vo Wasse»: National-Komik-Held Emil Steinberger (90) hat die Pfarrkirche St. Gallus, wie sie eigentlich heisst, in einem landesweit bekannten Sketch verewigt – dass man damals «das Chileli» auf der Bahnreise von Erstfeld nach Göschenen dank der Schienenführung durch Kehrtunnels samt Richtungswechseln ganze drei Mal sah, versucht der Komiker in seinem Sketch einem unsichtbaren ausländischen Bahnreisetouristen zu erklären. Dies in so einem überkandidelt-begeisterten Kuhschweizerdeutsch, dass die Kirche sofort und anhaltend ins nationale Bewusstsein eingeht, als Symbol fürs Reisen und für Fernweh.

Wegen des Unglücks gibts wieder Züge

Und für die an Wunder grenzende Schweizer Ingenieurskunst: Die Kehrtunnels und die Richtungswechsel am Berg machen die Überwindung der Steigung für die 1882 fertiggestellte Gotthardbahn überhaupt erst möglich. Und so riefen Generationen von Eltern auf dem Weg ins Tessin ihren Kindern gleich drei Mal pro Reise zu: «Lueg, s Chileli vo Wasse!» – genau so wie Emil Steinberger.

Foto: Philippe Rossier
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Seit 2016 ist aber Schluss damit: Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels verläuft die Streckenführung anders, erst seit dem Zugunfall vom 10. August fahren die Züge wieder – obwohl sie in Wassen schon lange nicht mehr halten. «Man wird fast nostalgisch, wenn man die Züge wieder sieht, sagt Maria Baumann-Gamma (74). Die gebürtige Wassnerin führt uns durchs Dorf und erzählt, wie es hier früher war. Baumann-Gamma ist als Bauerntochter auf einem Hof am gegenüberliegenden Steilhang von Wassen geboren – zwanzig Hektaren und stotzig! –, ist gefühlt mit dem halben Dorf verwandt und lebt in ihrem selbstgebauten Haus am Dorfplatz. Das Untergeschoss hat sie an den Volg vermietet. Damit es im Dorf noch einen Laden gibt. Das ist ihr wichtig.

Die Bevölkerung von Wassen schwindet

Das ist Baumann-Gamma ein Anliegen, früher führten ihr Mann, ihr Schwiegervater und sie in der alten Liegenschaft am selben Platz einen Milch- und Lebensmittelladen. Der Milchladen ist, wie so vieles in Wassen, verschwunden. Der Rundgang mit Baumann stimmt, so schön Wassen ist, traurig. Denn Baumann erzählt eine Geschichte des Niedergangs, eines Niedergangs der ganzen Region, den sie in ihrer Funktion als erste Landratspräsidentin – der Landrat ist das Parlament des Kantons Uri – mit allen Kräften zu verhindern versuchte. Grösstenteils vergeblich, auch ein Landrat kann gegen nationale oder globale Veränderungen wie Landflucht, Globalisierung oder den generellen Fortschritt der Technik wenig unternehmen.

13 Hotels und Restaurants hätte es einst im Dorf gegeben. Transitverkehr hat lange für Übernachtungen gesorgt, früher wechselten Transportunternehmen hier die Pferde, bevor es Richtung Gotthard weiterging. 12'000 Übernachtungen im Jahr verzeichnete Wassen vor den 1980er-Jahren. Dann wurde die Gotthard-Autobahn eröffnet – und die Anzahl sank nahezu sofort auf nur noch rund 5000. Mittlerweile lebt nur noch das Hotel Gerig vom Transitverkehr, «meistens sind es Holländer, die auf dem Weg nach Italien ein Mal übernachten», sagt die ehemalige Landratspräsidentin. Sie kennt die ehemaligen Hotels alle, weiss, wer sie geführt hat. Das Hotel Krone – jetzt sind dort Angestellte von Sawiris' Unternehmen Swiss Alps aus Andermatt untergebracht. Genauso im ehemaligen Hotel des Alpes. Das Hotel Gemsbock ist jetzt ein Wohnhaus. Die Alte Post – auch das seit diesem Jahr eine Unterkunft für Angestellte. Das sei nicht nur negativ, sagt Baumann-Gamma, immerhin werden die Immobilien so noch genutzt.

Auch haben einige Wassner, darunter auch Baumann-Gamma, früh die Zeichen der Zeit erkannt: Eine zunächst privat gegründete Stiftung konnte zwei prominent gelegene Liegenschaften in Alterssiedlungen umwandeln – und so sowohl die Nutzung sichern als auch den Dorfkern erhalten. Andere sind unwiederbringlich verloren: Einst ratterten etwa unter dem Bogenhaus, einem Haus, das über die Strasse gebaut war, Kutschen und Autos. In neuerer Zeit mussten Lastwagen, die zu hoch waren, jeweils die Luft aus den Pneus ablassen, um unten durchzukommen – und das dort ansässige «Bogen-Anneli» habe dann jeweils zur Erheiterung des Dorfs oben aus dem Fenster gewettert. Das Bogenhaus, das für eine Verlangsamung sorgte, wurde 1966 abgerissen.

Und ewig rauscht der Verkehr …

Was geblieben ist, ist Transitverkehr. Doch der hält nicht mehr, der rollt ungebremst durch. Mitten durchs Dorf führt die Kantonsstrasse, die Fenster der Häuser bleiben geschlossen. Es sei sonst einfach zu laut, fast wünsche man sich die Pandemie zurück, meint Baumann-Gamma. Nur manchmal hält am Dorfbrunnen, über dem unablässig der heilige Schutzpatron St. Gallus die vorbeiratternden Motoristen segnet, ein Velofahrer und nimmt einen Schluck Wasser.

Nicht nur die Hotellerie hat bessere Zeiten gesehen: Drei Steinbrüche gab es einst um Wassen, gleich oberhalb des Dorfs den Steinbruch Antonini. Der Wassner Granit wurde bis in die philippinischen Hauptstadt Manila exportiert. Heute ist vom florierenden Geschäft nur noch ein Freilichtmuseum übrig, als Letztes wurde mit dem bereits abgebauten Stein, der nicht mehr verkäuflich war, 1902 ein Schulhaus gebaut. Der riesige, düster-schöne Bau beherbergt heute nur noch die Primarschule – die Oberstufe ist in Gurtnellen, es gibt zu wenige Kinder, als dass jede Ortschaft eine eigene Schule anbieten könnte. 1968 zählte Wassen noch 950 Einwohner, heute sind es noch 460. Und viele Arbeitsstellen seien trotz aller Anstrengungen diverser Gemeinderäte verloren gegangen, weil sich Bund, Kanton oder die SBB zurückgezogen hatten: Arbeitsstellen bei der Bahn, beim Kraftwerk, bei der einstigen Militärfestung … alles wegrationalisiert oder ausgelagert.

… der Fluss rauscht hingegen vielleicht bald nicht mehr

Welchen Bedeutungswandel Wassen erleben musste, auch im kulturellen Sinn, macht ein neuerer Song deutlich: Die Schweizer Rapper Lo & Leduc haben der Ortschaft in ihrem Song «Chileli vo Wasse» ein zweites kulturelles Denkmal gesetzt: als Metapher für eine Beziehung, die es nicht wert ist, aufrechterhalten zu werden: «Es git gloub nid so viu z verpasse – du bisch mis Chileli vo Wasse», singen Lo & Leduc. Es geht um eine Frau, auf die man sich nun wirklich nicht ein drittes Mal einlassen will. Dabei gibt es in Wassen durchaus Dinge, auf die man sich gleich mehrmals einlassen könnte, die viel zu schade sind, um sie zu verpassen: etwa das liebliche Meiental, die Auffahrt zum Sustenpass, der gleich hinter Wassen beginnt. Einer der letzten wilden Flüsse der Innerschweiz, die Meienreuss, sprudelt wildromantisch durch dieses Tal, ein milchig-weiss schäumender Gletscherbach, daneben moosverwunschene Wälder voller Steinpilze und Maronenröhrlinge, weiter hinten Kuh- und Schafweiden. Es ist eine Postkartenidylle mit Blumen, Wiesen, dem Geruch nach frischem Heu – es entsteht hier übrigens ein Alpkäse, der seinesgleichen sucht.

Doch auch hier zeichnet sich ein Niedergang ab, ist der Fortschritt, zum Guten oder wohl eher zum Schlechten, nicht aufzuhalten: Das Postauto fährt nur noch einmal morgens und einmal nachmittags, und das Naturparadies mit einzigartiger Biodiversität ist in Gefahr: Das Wasserkraftwerk soll bald ausgebaut, dem Fluss viel Wasser zur Stromerzeugung entnommen werden, eine Einsprache des WWF wurde 2022 vom Bezirksgericht abgelehnt. Der Stromhunger der Städte frisst sich zerstörerisch und unaufhaltsam auch in die hintersten, schönsten Täler.

Und so steht man mit Maria Baumann-Gamma beim viel besprochenen Chileli von Wassen – übrigens eine sehr schöne Barockkirche – auf dem sonnenbeschienenen Hügel, und die Brust wird einem weit und das Herz gleichzeitig schwer. Denn auf dem Friedhof sind die meisten Gräber leer. «Fast alle Familiengräber werden aufgehoben», sagt Baumann. Es fehle der Nachwuchs, der die Gräber unterhält, die Urnen kämen ins Gemeinschaftsgrab.

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