Der Waadtländer will SGB-Boss werden
Herr Maillard, sind Sie ein linker Ladykiller?

Der Waadtländer Staatsrat Pierre-Yves Maillard will Paul Rechsteiner an der Spitze des Gewerkschaftsbundes beerben. Und tritt dafür gegen die SP-Nationalrätin Barbara Gysi an. Im BLICK-Interview erklärt er, warum er dennoch kein Ladykiller sei.
Publiziert: 12.10.2018 um 09:19 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2019 um 10:24 Uhr
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Pierre-Yves Maillard will es nochmals wissen. Er stellt sich der Wahl zum Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB).
Foto: KARL-HEINZ HUG
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Sermîn Faki (Text), Charly Hug (Bilder)

Das Waadtländer Gesundheits- und Sozialdepartement ist eine Baustelle. Das Haus neben dem Lausanner Rekrutierungszentrum der Armee bekommt eine Verschönerungskur. Nur das Chef-Büro sieht aus wie vor Jahren. «Ich habe bei meinem Einzug vor 14 Jahren nicht mal die Bilder gewechselt», sagt Staatsrat Pierre-Yves Maillard (48) zu BLICK. Sein Schreibtisch biegt sich unter der Last von Papieren. Der wichtigste Stapel sei der mit den Bürgerbriefen, verrät Maillard. Seine Amtsleiter hätten es zwar gar nicht gern, wenn er die lese. Die Gefahr, dass er Reklamationen aus der Bevölkerung ernst nähme und wirklich etwas ändere, sei zu gross.

BLICK: Herr Maillard, Sie haben aus Ihrem Büro einen wunderbaren Ausblick auf die Alpen und können als einflussreicher Staatsrat viel gestalten. Jetzt wollen Sie Präsident des Gewerkschaftsbunds werden – ein Lobbyist. Warum, um Himmels willen?
Pierre-Yves Maillard: Sie haben recht, ich kann in meinem Departement wirklich etwas bewegen. Ich kann denen helfen, die wenig haben. Ich kann etwas für die Integration der Jungen tun und gegen die Einsamkeit der Alten. Ich habe einen tollen Job.

Jetzt haben Sie einen Werbespot für Ihr Amt platziert. Warum wollen Sie es nicht mehr?
Vor den letzten Wahlen habe ich meiner Partei gesagt: Nach dieser Legislatur höre ich auf. Daran halte ich mich. Es wäre eine grosse und motivierende Herausforderung, die Nachfolge von Paul Rechsteiner anzutreten. Ich könnte zu meinen Wurzeln zurückkehren. Bevor ich in die Regierung kam, war ich Gewerkschafter. Ich habe etwa 20 Sozialkonflikte ausgefochten, weil Finanzspekulanten ganze Industriezweige zerstörten. Wir haben nicht immer gewonnen, aber immer gekämpft. Die Linke übt sich gern in Theorien, sie muss sich aber im Kontakt mit den Arbeitern der Realität stellen.

Was heisst das konkret?
Als ich darüber nachgedacht habe, ob ich für das SGB-Präsidium kandidieren möchte, habe ich eine Art Programm erstellt. Wer mich nominiert oder wählt, weiss damit, was er bekommt.

Wie sieht das Programm aus?
Punkt Nummer 1: Wir müssen Lösungen für den Kaufkraftverlust finden. Als ich ein Kind war, konnte mein Vater mit dem Lohn eines ungelernten Arbeiters eine fünfköpfige Familie ernähren. Es war ein einfaches Leben, aber es hat uns an nichts gefehlt. Heute kann man mit einem Arbeiterlohn alleine leben, aber sicher keine Familie ernähren.


Deswegen arbeiten heute viele Frauen.
Genau, und dieser Fortschritt erlaubt den Familien, noch normal zu leben, weil Mieten und Krankenkassenprämien viel stärker gestiegen sind als die Löhne. Nur: Die Fixkosten steigen weiter höher als die Löhne, wir können aber kein drittes Einkommen organisieren – oder wollen wir die Kinder arbeiten schicken?

Kommt jetzt die übliche Forderung nach höheren Löhnen?
Natürlich braucht es die. Lohn- und Arbeitsverhandlungen sind Aufgabe der Gewerkschaften. Der Gewerkschaftsbund als Dachverband sollte sich aber auch anderen Themen widmen. Wir müssen die Sozialpolitik neu denken.

Wie?
Unsere Sozialwerke sind da, um einzuspringen, wenn ein Lohn wegen Alter, Arbeitslosigkeit oder Krankheit wegfällt. Doch das reicht nicht mehr. Wir brauchen eine Ergänzung zu den Löhnen. Konkret: Wir müssen den Familien helfen, die Fixkosten zu bezahlen.

Wie soll das gehen?
Bei uns im Kanton Waadt zahlt ab 2019 niemand mehr als 10 Prozent seines Einkommens für die Krankenkasse. Das bedeutet: 40 Prozent der Bevölkerung bekommen Zuschüsse – also bis in den Mittelstand hinein. Eine Familie mit zwei Kindern, die 7000 Franken Netto-Einkommen hat, wird 330 Franken mehr Prämienverbilligung bekommen. Zusätzlich haben wir mit den Arbeitgebern verhandelt, dass sie im Monat 50 Franken mehr Kinderzulage zahlen. Damit wird die Familie um 430 Franken im Monat entlastet. So stark können Löhne kaum steigen!

Das kostet Milliarden! Wer soll das bezahlen?
Klar kostet das. In der Waadt geben wir nächstes Jahr 800 Millionen für Prämienverbilligungen aus. Und das ist nicht alles: Für jene 20'000 Leute, die trotz Arbeit kein ausreichendes Einkommen erzielen, haben wir Ergänzungsleistungen eingeführt. Die Kosten von 80 Millionen Franken teilen sich Arbeitnehmer und -geber, Gemeinden und Kanton. Das ist gut investiertes Geld, weil es Anreize schafft, um zu arbeiten. Das entlastet die Sozialhilfe. Wir haben so die Zahl der sozialhilfeabhängigen Alleinerziehenden stark reduziert!

800 Millionen hier, 80 da, das wird teuer.
All diese Massnahmen machen uns nicht arm. Die Waadt konnte in den letzten 14 Jahren Schulden von 9 Milliarden Franken tilgen. Die Wirtschaft brummt, dem Kanton geht es gut. Es braucht etwas Kreativität. Aber wenn man will, kann man etwas unternehmen.

Der pragmatische Ultralinke

Pierre-Yves Maillard wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf. Das hat den heute 50-Jährigen geprägt: Der Kampf gegen vermeintliche soziale Ungerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch seine Karriere. Die beginnt, als er 1990 in den Gemeinderat von Lausanne einzieht, führt über den Kantonsrat, den Nationalrat sogar bis zum Bundesratskandidaten: 2011 trat Maillard gegen Alain Berset (46) für die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey (73) an – und verlor. Seit 2004 leitet Maillard als Regierungsrat das Departement für Gesundheit und Soziales. Nun will er Präsident des Gewerkschaftsbunds werden. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.

Pierre-Yves Maillard wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf. Das hat den heute 50-Jährigen geprägt: Der Kampf gegen vermeintliche soziale Ungerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch seine Karriere. Die beginnt, als er 1990 in den Gemeinderat von Lausanne einzieht, führt über den Kantonsrat, den Nationalrat sogar bis zum Bundesratskandidaten: 2011 trat Maillard gegen Alain Berset (46) für die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey (73) an – und verlor. Seit 2004 leitet Maillard als Regierungsrat das Departement für Gesundheit und Soziales. Nun will er Präsident des Gewerkschaftsbunds werden. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.

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Zurück zum SGB. Was steht noch in Ihrem Programm?
Zwei Dinge: Erstens braucht der SGB eine Strategie für dynamische Sektoren. In 20 Jahren werden in der Schweiz doppelt so viele über 75-Jährige leben. Das wird 100'000 neue Jobs schaffen. Wohl eher für Frauen, aber körperlich streng und im Niedriglohnsektor. Als Gewerkschaftsbund muss man darauf vorbereitet sein.

Und zweitens?
Müssen wir unsere Mitgliederzahlen erhöhen. Politisch hat der SGB unter einem klugen und geschickten Paul Rechsteiner sehr viel erreicht. Aber wenn der Mitgliederschwund so weitergeht, schwindet die politische Kraft des SGB. Also müssen wir unseren Gewerkschaften helfen, Mitglieder zu rekrutieren.

Solch deutliche Worte kommen nicht überall gut an. 2011 haben sie Sie vielleicht den Bundesratssitz gekostet.
Wenn ich gewählt werden soll, dann dank Klarheit und nicht aufgrund eines Missverständnisses. Das gäbe nachher nur Probleme. Ich wollte nie Bundesrat werden, um das in meinen Lebenslauf zu schreiben. Ich will etwas bewegen.

Schmerzt es Sie, dass Sie Alain Berset unterlegen sind?
Nein. Ich habe in meinem Kanton viel erreicht. Und ich denke nicht, dass ich als Bundesrat mehr hinbekommen hätte als er. In der Waadt konnten wir über all die Jahre mit der FDP Lösungen finden. In Bern scheint mir das schwieriger.

Als SGB-Präsident kann man mehr bewegen, wenn man auch im Parlament sitzt. Tauschen Sie Ihr Büro also gegen das Bundeshaus ein?
Ja, als SGB-Präsident würde ich für den Nationalrat kandidieren. Zum einen, weil die Gewerkschaften das wünschen. Und zweitens erhält der Kanton Waadt 2019 einen zusätzlichen Sitz. Es wäre die Gelegenheit, den für die SP zu sichern.

Bei den Bundesratswahlen vom Dezember ist die Frauenfrage omnipräsent. Auch im SGB gibt die Frauenfrage zu reden: Ihnen wird vorgeworfen, SP-Nationalrätin Barbara Gysi vor der Sonne zu stehen. Sind Sie ein linker Lady-Killer?
Ich hoffe nicht! Ich habe selbst die Frauenfrage im Präsidialausschuss aufgeworfen: Ist die Wahl eines Mannes an die SGB-Spitze möglich oder nicht? Die einstimmige Antwort lautete: Ja. Die Frauen haben mit Vania Alleva als Vizepräsidentin des SGB und Leiterin der grössten Gewerkschaft der Schweiz eine starke Vertreterin. Was für die Westschweiz nicht der Fall ist. Am Ende kann nur eine kollegiale Präsidentschaft die Vielfalt der Bewegung repräsentieren.

Zum letzten Thema: Die Gewerkschaften blockieren den Abschluss des EU-Rahmenabkommens. Sie wollen nicht über die flankierenden Massnahmen diskutieren.
In unserem erweiterten Arbeitsmarkt üben viele Arbeitgeber einen grossen Druck auf die Einkommen aus. Da kann man jeden fragen, ob Bauarbeiter oder Ingenieur. Und dann kommen zwei Bundesräte und schlagen vor, die Löhne etwas weniger zu schützen – das ist absurd!

Wenn SP und FDP zusammenspannen

Seit einigen Jahren gehört der Kanton Waadt zu den Wachstumsregionen der Schweiz. Das liegt auch an einem der erfolgreichsten Gespanne der Schweizer Politik: Pierre-Yves Maillard (50, SP) und Pascal Broulis (53, FDP).

Mit einem «dynamischen Kompromiss» haben die beiden Regierungsräte die Schulden des Kantons abgebaut und für ein gutes Wirtschaftsklima gesorgt. Zu Beginn trug Sozialdirektor Maillard schmerzhafte Sparprogramme mit, weil Finanzdirektor Broulis zugesagt hatte, die Steuern nicht zu senken – er schlug 2007 gar Steuererhöhungen vor, wurde vom Volk aber zurückgepfiffen. Im Gegenzug belohnte er Maillard mit einem Ausbau der Sozialleistungen.

So funktionierte auch ihr grösster Coup, die Revision der Unternehmensbesteuerung. Maillard unterstützte Broulis' Wunsch nach tieferen Unternehmenssteuern. Broulis versprach Maillard im Gegenzug mehr Geld für Kinderzulagen, Kinderkrippen und Prämienverbilligungen. Ab dem 1. Januar 2019 dürfen die Durchschnittsprämien zehn Prozent des Einkommens nicht mehr übersteigen.

Seit einigen Jahren gehört der Kanton Waadt zu den Wachstumsregionen der Schweiz. Das liegt auch an einem der erfolgreichsten Gespanne der Schweizer Politik: Pierre-Yves Maillard (50, SP) und Pascal Broulis (53, FDP).

Mit einem «dynamischen Kompromiss» haben die beiden Regierungsräte die Schulden des Kantons abgebaut und für ein gutes Wirtschaftsklima gesorgt. Zu Beginn trug Sozialdirektor Maillard schmerzhafte Sparprogramme mit, weil Finanzdirektor Broulis zugesagt hatte, die Steuern nicht zu senken – er schlug 2007 gar Steuererhöhungen vor, wurde vom Volk aber zurückgepfiffen. Im Gegenzug belohnte er Maillard mit einem Ausbau der Sozialleistungen.

So funktionierte auch ihr grösster Coup, die Revision der Unternehmensbesteuerung. Maillard unterstützte Broulis' Wunsch nach tieferen Unternehmenssteuern. Broulis versprach Maillard im Gegenzug mehr Geld für Kinderzulagen, Kinderkrippen und Prämienverbilligungen. Ab dem 1. Januar 2019 dürfen die Durchschnittsprämien zehn Prozent des Einkommens nicht mehr übersteigen.

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Zur Diskussion stand bloss, ob man die Löhne anders schützen kann.
Glauben Sie das Märchen der FDP-Bundesräte nicht! Welches Interesse hätten deutsche und französische Firmen daran, Schweizer Löhne anders zu schützen? Was sie wollen, ist ein Wettbewerbsvorteil. Und einer der für sie vielversprechend wäre, ist ein Preisvorteil dank tieferen Löhnen. Wenn der Lohnschutz gleich hoch bleibt, ziehen die EU-Unternehmen weniger Nutzen.

Damit steht aber der bilaterale Weg vor dem Aus. Können wir uns das leisten?
Wir wissen alle, dass unsere Gesetze in vielen Sektoren, bei der Energie, den Kantonalbanken und auf Bundesbetriebe, nicht EU-konform sind. Die flankierenden Massnahmen werden nur vorgeschoben. Es geht der EU darum, dass wir uns endlich ihren Wettbewerbsvorgaben unterordnen. Das spürt die Bevölkerung. Sie weiss aber nicht, wohin der Zug fährt, wenn wir die Weichen so oder so stellen. Sie wird nicht informiert.

Die Verhandlungen sind ja auch geheim.
Es ist bei allen Verhandlungen das Gleiche: Man lässt die Bevölkerung aussen vor und stellt sie am Schluss vor die Wahl: Wollt ihr noch an der Weltwirtschaft teilhaben oder nicht? «Friss oder stirb!» Wer überleben will, soll Liberalisierung, Privatisierung und Sozialdumping schlucken. So geht das nicht mehr. Mein Vorschlag an den Bundesrat: Legt alles auf den Tisch, damit eine öffentliche Debatte möglich ist. Denn erst dann können wir entscheiden, ob der Preis zu hoch ist.

Die zunehmend EU-kritische Haltung der Gewerkschaften bringt die europäische Sozialdemokratie in die Bredouille.
Die Gewerkschaften sind nicht europafeindlich, aber sie wollen endlich ein soziales Europa. Politisch ist die Lage schon dramatisch: Wenn man nach Italien, Frankreich, ja gar nach Deutschland schaut, fragt man sich unweigerlich, ob die Sozialdemokratie noch überlebensfähig ist. Und alles, weil sie dem bürgerlichen Druck nachgegeben hat. Den historischen Fehler beging Jacques Delors, als er einem liberalen Europa zustimmte, um Margareth Thatcher an Bord zu holen. Diese Ironie kann man nicht übertreffen: Oft gegen den Willen des Volkes hat man heute ein liberales Europa – und die Briten sind nicht mehr dabei!

Also, was braucht es?
Damit die europäische Integration gerettet werden kann, müssen die Pro-Europäer – in der EU, aber auch in der Schweiz – dringend verstehen, dass es genug Reichtum in Europa gibt, um die Arbeitnehmer zu schützen: Als Angela Merkel 2015 die Grenzen für Flüchtlinge öffnete, sagte sie: «Wir brauchen diese Leute.» Was nicht so dumm war, denn auch die Deutschen werden immer älter. Auf die Sozialwerke kommen grosse Herausforderungen zu. Aber Merkel hätte gleichzeitig für die einfachen Leute Deutschlands konkrete Verbesserungen realisieren müssen. Dabei hätte gerade Deutschland die Mittel dazu. Wie will Merkel einem Hartz-4-Empfänger erklären, warum es für ihn keinen Job gibt, sie aber zwei Millionen Menschen ins Land holt? Das kann sie nicht. Eine Politik, die die soziale Unsicherheit vergrössert, kann von der Bevölkerung nur schwer Offenheit verlangen.

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