Migrations-Chef Mario Gattiker
«Denkbar, dass es 2016 noch mehr Asylgesuche gibt»

Im Interview mit BLICK spricht Mario Gattiker unter anderem über sexuelle Übergriffe von Flüchtlingen, erklärt, weshalb die Schweiz für Flüchtlinge so unattraktiv ist wie noch nie und äussert sich zum neuen Asylgesetz und dessen Folgen.
Publiziert: 15.01.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 19:57 Uhr
Krasse Verzerrungen bei  der Asyl-Altersstruktur: SEM-Chef Mario Gattiker muss Antworten liefern.
Foto: Peter Gerber
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Von Nico Menzato, Joël Widmer (Interview) und Peter Gerber (Fotos)

BLICK: In Köln haben Flüchtlinge Frauen sexuell belästigt. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von diesen Übergriffen hörten?
Mario Gattiker:
Die Ermittlungen laufen, und man sollte deshalb zurückhaltend sein mit vorschnellen Urteilen. Wenn sich aber bestätigt, dass ausländische Männer Gewalt gegen Frauen ausgeübt und damit das Gastrecht missbraucht haben, ist das unhaltbar und muss konsequent geahndet werden.

Gibt es sexuelle Übergriffe von Flüchtlingen in der Schweiz?
In seltenen Einzelfällen. In den Bundeszentren gehen die allermeisten Asylbewerber respektvoll mit Frauen um, auch mit dem weiblichen Betreuungspersonal. Bei Belästigungen und ­sexuellen Übergriffen gilt in unseren Zentren Nulltoleranz. Straftaten sind konsequent zu ahnden.

Gibt es Probleme rund um die Bundeszentren?
Wir stellen keine grösseren Probleme fest. Asylbewerber wissen, dass Gewalt gegen Frauen strafbar ist und nicht drinliegt.

Braucht es Kurse für Asylbewerber, in denen ein respektvoller Umgang mit Frauen thematisiert wird?
In unseren Asylzentren wird auf die Regeln des Zusammenlebens in der Schweiz hingewiesen. Gewisse Gemeinden wollen nach den Vorfällen von Köln diese Bemühungen intensivieren – da habe ich nichts dagegen. Wenn Gewalt gegen Frauen ausgeübt wird, müssen die Sicherheitsbehörden reagieren. Die Kantone ordnen auch konsequent Administrativhaft an für Personen, die im Verdacht stehen, ein Delikt begangen zu haben, und wir führen sie prioritär in ihren Herkunftsstaat zurück.

Mit dem neuen Asylgesetz sollen jetzt die Verfahren verkürzt werden. Die SVP hat das Referendum dagegen ergriffen. Wegen der Gratis­anwälte. Diese verlängern doch die Asylverfahren?
Das ist eben völlig falsch, das Gegenteil ist der Fall: Ohne kostenlose Rechtsvertretung könnten die Verfahren gar nicht so schnell durchgeführt werden. Die neuen, viel rascheren Verfahren haben sehr kurze Fristen. Die Rechtsvertretung ist von Anfang an bei den Verfahren dabei, was die Qualität erhöht und dazu führt, dass die Asylsuchenden die Entscheide besser akzeptieren. Die Schluss­evaluation des Testbetriebs in Zürich zeigt deutlich: Mit der kostenlosen Rechtsvertretung gibt es weniger Beschwerden. Der unentgeltliche Rechtsschutz ist ein Schlüssel für die Beschleunigung der Verfahren.

Wie erklären Sie sich das?
Die Anwälte erklären den Asylbewerbern offen, ob eine allfällige Beschwerde Chancen hat. Die Anwälte werden mit einer Fallpauschale abgegolten. Sie haben keinen finanziellen Anreiz, Verfahren zu verlängern.

Dennoch: Schweizer bekommen auch keine Gratisanwälte!
Die allermeisten Asylsuchenden sind mittellos. Auch mittellose Schweizer haben in wichtigen Rechtsverfahren Anrecht auf ­einen unentgeltlichen Anwalt, etwa im Strafverfahren. Bei Asylverfahren geht es um eines der höchsten Rechtsgüter: die Unversehrtheit von Leib, Leben und Freiheit.

Mit dem neuen Gesetz könnten Sie Asylzentren auch gegen den Willen der lokalen Bevölkerung eröffnen. Die SVP kritisiert dies als Diktatur.
Die Rechte der Gemeinden werden nicht ausgehöhlt. Sie haben Mitwirkungs- und Beschwerderechte. Enteignung ist Ultimo Ratio.

Aber sie ist möglich?
Das Planungsgenehmigungsverfahren ist ein bewährtes Mittel für Bauten des Bundes im ­öffentlichen Interesse, also für Strassen, Elektrizitätsanlagen oder militärische Bauten. Auch meine eigene Familie wurde übrigens schon enteignet. Als im Tessin eine Strasse genau dort verbreitert wurde, wo unser Ferienhaus stand.

Sie können also nicht versprechen, auf Enteignungen zu verzichten?
Enteignungen sind derzeit an keinem einzigen Ort ein Thema. Theoretisch sind sie möglich, aber wir suchen nach einvernehmlichen Lösungen.

Wie viele Asylgesuche wurden 2015 in der Schweiz gestellt?
Rund 39'500.

So viele gab es seit dem Kosovokrieg 1999 nicht mehr. Werden es 2016 noch mehr?
Das ist schwierig zu sagen. In Syrien, Irak, der Türkei oder Jordanien leben sehr viele Flüchtlinge, die immer mehr unter Druck sind. Die Entwicklung in der Türkei wird entscheidend sein. Und wie die ­Migrationsrouten verlaufen.

Was ist Ihre Prognose?
Die Situation wird nicht einfacher sein als 2015. Es ist denkbar, dass 2016 noch mehr Asylgesuche gestellt werden. Dies bedeutet: Schnelle Verfahren, wie sie mit der Asylgesetzrevi­sion angestrebt werden, sind wichtiger denn je.

Ist die Schweiz für Flüchtlinge zu attraktiv?
Der Schweizer Anteil an allen europäischen Flüchtlingen war noch nie so tief wie jetzt. Früher hatte die Schweiz rund acht Prozent aller Flüchtlinge – heute sind es drei Prozent. Die Schweiz ist innerhalb Europas für Migranten ohne echte Asylgründe so unattraktiv wie noch nie. Das ist auch eine Folge unserer erfolgreichen Massnahmen wie den 48-Stunden-Verfahren bei Asylgesuchen aus dem Westbalkan.

Dennoch nimmt die kleine Schweiz in Europa viele Flüchtlinge auf.
Neuste Zahlen zeigen: Die Schweiz steht im Verhältnis zur Bevölkerung an siebter Stelle. Hinter Ungarn, Schweden, Österreich, Norwegen, Finnland und Deutschland. Bis vor kurzem waren wir in den Top drei.

Wie gut sind Sie auf einen weiteren Ansturm vorbereitet?
Wir sind intensiv zusammen mit den Kantonen an einer Vorsorgeplanung. Wir haben innert kurzer Zeit unsere Kapazitäten auf 5000 Plätze ausgebaut und damit mehr als verdoppelt. Wir bereiten uns auf eine weitere Eskalation vor. Wir wollen verhindern, dass Leute auf der Strasse stehen, sollten dereinst noch mehr Asylsuchende kommen. Wir wollen nochmals 2500 temporäre Plätze bereitstellen.

Die meisten Asylbewerber kamen nicht aus Syrien, sondern aus Eritrea, obwohl dort kein Krieg herrscht. Wieso können diese dennoch bleiben?
Wir können die allermeisten Asylbewerber aus Eritrea nicht ohne Risiko zurückführen. Dies weil ihnen bei einer Rückführung menschenrechtswidrige Behandlung droht.

Was droht diesen Leuten konkret?
Gefängnisstrafen, übermässig harte Behandlungen bis hin zu Folter, Willkür und Unvorhersehbarkeit von Sanktionen.

Wie erreichen sie, dass weniger Eritreer kommen?
Es braucht in Eritrea eine Änderung der Verhältnisse. Wir versuchen zusammen mit anderen europäischen Staaten auf die eritreische Regierung einzuwirken. Das ist ein längerfristiger Prozess. Das wichtigste an der Asylpolitik ist und bleibt die Bekämpfung der Fluchtursachen.

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