Nach der Krise
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Reportage aus dem Tessin
Nach der Krise

In der Deutschschweiz steigen die Corona-Zahlen. Im Tessin sind die Erinnerungen an den Horror noch frisch. Fünf Tessinerinnen und Tessiner erzählen, was sie erlebt haben. Hören wir zu.
Publiziert: 18.07.2020 um 13:56 Uhr
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Aktualisiert: 19.07.2020 um 14:41 Uhr
Fünf Tessinerinnen und Tessiner erzählten uns, wie sie die Corona-Zeit erlebt haben. Francesco Coldesina (39) als Gastronom. Er rief jeden Tag bei der Hotline des Bundes an, die wussten nicht weiter.
Foto: JESSICA KELLER
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Superspreader verteilen das Virus in den Clubs, Spinner pöbeln Contact-Tracer am Telefon an, auch der halbe FC Zürich hat sich infiziert, und alle fragen sich, was da noch alles auf uns zukommt. Covid-19 ist zurück. Vor allem in der Deutschschweiz. Und während wir in Zürich, St. Gallen oder Aarau darüber nachdenken, ob wir es wagen sollen, zu verreisen oder zu Hause nicht doch lieber wieder WC-Papier zu horten, vergessen wir das Tessin. Über Monate steckte die italienische Schweiz in einem Albtraum fest, von dem wir weit entfernt sind.

Zehn Prozent der Infizierten starben im Tessin – der Schweizer Schnitt lag bei etwa sechs Prozent. Wäre der Südkanton ein Land, hätte es eine der höchsten Todesraten weltweit. Diese Erfahrung hinterliess Spuren. Für einmal waren die legeren Tessiner die Ernsten. Riefen als erster Kanton den Notstand aus, schlossen die Schulen, die Läden, die Baustellen und verboten den Über-65-Jährigen, einkaufen zu gehen. Und vor kurzem ordneten sie wieder als Erste striktere Massnahmen an.

Wie geht es den Tessinerinnen und Tessinern jetzt? Wir wollten es genau wissen und fuhren über den Gotthardpass. Und trafen auf eine Region, die nicht nur mit dem Corona-Trauma zu kämpfen hat, sondern auch mit einer Erfahrung, die das Tessin immer wieder macht: der Ignoranz der Deutschschweizer.

Fünf Menschen haben uns ihre persönliche Corona-Geschichte erzählt. Ein Arzt, ein Campingplatz-Chef, ein Gastronom, eine Deutschschweizerin und ein Musiker.

Andreas Cerny (64), Arzt

Wenn Andreas Cerny über die letzten Monate spricht, tut er das mit sanfter Stimme, er ist kein Mann der emotionalen Ausbrüche, auch wenn er genug Grund dazu gehabt hätte. Cerny sah Menschen an Corona sterben. Als Direktor des Ambulatoriums Epatocentro Ticino und Infektiologe der Privatklinik Moncucco in Lugano. Dort, wo es den ersten Covid-Patient in der Schweiz gab.

Tag und Nacht versorgten er und seine Kollegen die Corona-Kranken, Frau und Sohn sah er kaum mehr, selbst in seine Träume schlich sich das Virus. Trotzdem reagierte er auf jede einzelne Medienanfrage, weil er Deutsch spricht. «Ich fühlte mich verpflichtet, etwas zu tun.» Er hoffte, die Erfahrungen der Italiener über den Gotthard transportieren zu können, und wurde enttäuscht: «Ännet des Gotthards nahm man unsere Erfahrung nicht wahr.» Das spürte er bald schon in Gesprächen mit Deutschschweizer Ärzten, aber auch mit dem BAG. «Sie dachten, wir übertreiben.» Die Nordschweiz hatte viel weniger Fälle, sie verstanden nicht, mit was die Ärzte hier im Tessin dealten. Und bald kamen auch noch wüste E-Mails von Wildfremden hinzu, Cerny wurde als «Ratte», als «Panikmacher» beschimpft.

Was treibt ihn an?, fragen wir in seinem Behandlungszimmer mit Blick auf den Monte Tamaro, und er holt aus.

Als junger Arzt in Bern, Genf und Seattle musste er zusehen, wie an Aids erkrankte Männer mit dem Tod rangen, in den Neunzigern erlebte er Ähnliches mit den Hepatitis-Viren. «Beides war ein Schock», sagt er. Und liess ihn nicht mehr los. In den Nullerjahren steckte er seine ganze Kraft in den Aufbau des Epatocentro Ticino, des Ambulatoriums für HIV-, Hepatitis- und Suchtpatienten.

Nun Seuche Nummer drei. Cerny vergleicht sie mit Horrorfilmen. Es gebe da diesen Klassiker, «The Night of the Living Death», in dem die Zombies langsam vom Wald auf das Dorf zu schlurften. So habe er HIV und Hepatitis erlebt. In «Worldwar Z» rasten die Monster so schnell wie Autos. So sei es bei Corona. «Dass sich ein Virus so schnell ausbreitet, habe ich noch nie erlebt.» Und dann sagt er zum ersten Mal: «Das macht mir Angst.»

Einige Tessiner Ärzte infizierten sich, manche starben, ein Internist und ein Psychiater kannte er persönlich. Es hätte auch ihn treffen können. Nur wenn er bei einem Patienten einen Abstrich machen musste, wenn er dafür in einen Schutzanzug schlüpfte, dann kam der Gedanke, dass er sterben könnte.

Cerny empfindet die Lockerungsmassnahmen als überhastet. Er warnte im Mai vor der Grenzöffnung, weil das eine zweite Welle befeuert. Aber Bern stellte sich taub.

Was Cerny erlebt hat, ist symptomatisch für die ganze Region. Schon im Februar und März schlug das Tessin in Bern Alarm. Es forderte, die Grenze zu Italien zu schliessen und dort Fiebermessungen einzuführen. «In Bern haben sie uns ins Gesicht gelacht», sagte der Tessiner Gesundheitsdirektor Raffaele De Rosa (47) einem «CH Media»-Journalisten.

Wegen dieser Mischung aus Arroganz und Ignoranz brachen im Tessin alte Wunden auf. Aus der Zeit, als Deutschschweizer Landvögte die Tessiner knechteten. Und später, als sie den Kanton ab 1882 klein hielten, bei der Gotthardbahn überrissene Bergzuschläge verlangten. Diese verteuerten den Warentransport so, dass sich keine Industrien ansiedeln konnten. Die Deutschschweiz hatte keine Konkurrenz zu fürchten. Dem Tessin blieb am Ende nur der Tourismus.

Gianfranco Patelli (75), Campingplatz-Chef

Gianfranco Patelli macht sonst höchstens das Hochwasser vom Lago Maggiore und der Verzasca Probleme. Einmal mussten seine Leute deshalb in einer einzigen Nacht 600 Check-outs abfertigen. Wegen Corona verlor er nun aber gleich 30 Prozent des Umsatzes. «Man rechnet ja immer mit dem Schlimmsten, jetzt ist es eingetroffen», sagt der Mann, dem man im Schritttempo nicht hinterherkommt.

Patelli ist der Patron von Campofelice in Tenero, dem grössten Campingplatz der Schweiz. Mit 250'000 Übernachtungen im Jahr. Seit 49 Jahren steht er auf dem Platz, jeden Tag. Ausser wenn er Ferien hat, was selten vorkommt. Italien sagt ihm nicht viel, er bleibt lieber in der Schweiz, in den Bergen oder auf dem Campingareal, wo er mit seiner Frau wohnt.

Sein Sohn Simone führt schon lange die Geschäfte mit, Campofelice ist eine Familien-AG. Und man mag es ihm nicht so recht glauben, wenn Vater Gianfranco aus dem nichts heraus plötzlich sagt: «Vielleicht höre ich nächstes Jahr auf.» Ohne den Patron, den «Capo», «Boss», wie ihm ein Gast in Badelatschen hinterherruft, würde etwas fehlen. Während wir mit dem Golfwagen durch die Wohnwagensiedlung kurven, sieht sein geübtes Auge ständig etwas, das man verbessern kann. Manchmal brauche es familienintern auch etwas Überzeugungsarbeit, sagt er mit einem Augenzwinkern.

Weil es teuer wird. Fast zehn Millionen Franken investierte die AG in den letzten Jahren: in einen Pool- und Wellnessbereich sowie in eine Sanitäranlage mit Spezial-WCs für Kinder und Rollstuhlfahrer, die man sonst nur in einem Spitzenklassehotel vermuten würde. «Die Gäste erwarten das», sagt er. Eine zweite Corona-Welle kann man sich hier eigentlich gar nicht leisten.

Schlimm genug, dass die Campingplätze erst am 6. Juni wieder aufmachen durften. Nach den Jugendherbergen, nach den Berghütten. «Als Letzte!», betont Patelli. «Ecco», «tja», für einmal ist Bern halt der Chef. Immerhin sei der Campingplatz jetzt voll. Voll mit Deutschschweizern.

Sie füllen während der Ferienzeit die Lücke der Auslandtouristen, die Tessiner sind heilfroh, auch wenn die Deutschschweizer bis vor kurzem noch mit drastischen Plakaten empfangen wurden, mit Bildern von Intensivstationen und dem Aufruf auf Deutsch, zu Hause zu bleiben. Ein Akt der Verzweiflung. Als man in den Spitälern in Lugano nämlich die ersten Kranken an die Beatmungsgeräte hängte, fragten sich in der Deutschschweiz viele, ob es wirklich nötig ist, wegen dieses Virus die Wirtschaft lahmzulegen, und fuhren weiter ins Tessin. Jetzt beginnt das Virus im Norden zu wüten. «Nun sieht Zürich einmal, wie es ist», sagt eine Luganesin anonym. So denken viele.

Francesco Coldesina (39), Gastronom

Ins Grotto Valletta in Lugano kommen jetzt die Romands. «Die meisten sind zum ersten Mal im Tessin», sagt der Chef, Francesco Coldesina (39).

In der Region tobt ein Preiskampf, die lokalen Gastrobetriebe müssen mit den Italienern in Ponte Tresa, Varese oder Como mithalten. «Die Tessiner können wir nur mit einer guten Qualität gewinnen.»

Bis Corona kam. Der Lockdown tilgte 2,5 Millionen vom Umsatz. In der Woche vor dem 20. März lag er nachts wach im Bett und dachte an seine Angestellten, an deren Familien. «Ich hatte Panik.» Tagsüber hängte er sich ans Telefon, rief die Hotline des Bundes an. Immer lief das Gespräch gleich ab: Coldesina fragte, was er tun kann, und die Dame am Telefon sagte, sie wisse es nicht, der Bundesrat entscheide bald. «Ich dachte, wir gehen unter. Dann rettete uns Ueli Maurer mit den Krediten.»

«Allora.» Jetzt tänzelt Coldesina wieder von einem Bein aufs andere, ist in Gedanken schon halb in Andermatt, wo ihm weitere Gastrobetriebe gehören. Er pendelt hin und her. Gerade hat er ein Kajak gekauft, stolz zeigt er Handyfotos: vorne die Köpfe von Frau und Sohn im Boot, im Hintergrund die mit Bäumen und subtropischen Pflanzen überzogenen Hügel des Gebiets um Morcote. «Schau, das sieht doch aus wie in Thailand!»

Corona verändert den Tourismus, sagt er. Die Schweizer wollten jetzt lokal Ferien machen und lokale Betriebe unterstützen. «Das ist gut für uns alle, der Massentourismus macht alles nur kaputt.»

Beate Helene Spiess (57), Deutschschweizerin

Auch Beate Helene Spiess kann der Pandemie etwas Gutes abgewinnen: «Die Natur durfte aufatmen.»

Die Winterthurerin gehört zu den fast zehn Prozent Deutschschweizern, die im Tessin leben. Vor 17 Jahren zog sie mit ihren zwei Kindern von England ins kleine Dorf Brione sopra Minusio – oberhalb Locarnos. Nun pflegt sie jeden Tag ihren riesigen Naturgarten mit einheimischen Pflanzen, kümmert sich um die schneeweissen Hühner, Sittiche, Schildkröten und Wildkatzen.

Anfang März ging sie nicht mehr ins Fitness, unterhielt sich mit ihren Freunden nur noch am Telefon oder ausserhalb des Hauses, auf der Terrasse.

Den Lockdown verbrachte sie allein. Einsam habe sie sich nicht gefühlt, sagt sie. «Ich lebe lieber hier isoliert als im Spital intubiert.»

Ihre Tessiner Freunde taten sich schwer damit, dass sie sich zur Begrüssung nicht mehr umarmen durften. «Mir macht das nichts aus, im Gegenteil, ich schau meinem Gegenüber lieber in die Augen.»

Adriano Iiriti (34), Musiker

Auf die Umarmung hätte Adriano Iiriti verzichten können, aber die Isolation, die setzte ihm richtig zu.

Drei ganze Monate lang war er eingesperrt in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Rivera, einem Luganeser Vorort. Die Familie lebt in Süditalien und Schottland, die Tessiner Freunde igelten sich selbst ein, und von Freundin Margarita trennte ihn die Grenze, sie ist Mailänderin. Die Fernbeziehung funktionierte zwei Jahre lang reibungslos, die beiden sahen sich oft. Irgendwann während der Corona-Zeit, nach unzähligen Stunden per Videochat, hatten sie sich nun aber immer weniger zu sagen. «Ich fühlte mich taub und einsam», sagt er in seinem Wohnzimmer.

Iiriti lebt vom Getöse des Alltags, dem Stoff für seine Arbeit. Er ist Elektromusiker, legt als DJ auf und kümmert sich um die Finanzen eines Hotels, damit er die Miete zahlen kann. Er denke ständig an Musik. «Selbst während wir hier miteinander sprechen.» Die Ereignislosigkeit knipste in seinem Kopf plötzlich alles auf stumm, die Arbeit am zweiten Album stockte, die Keyboards im Schlafzimmer blieben unangetastet. «Mir fehlte die Inspiration.»

Das erste grosse Ereignis war das Wiedersehen mit Margarita. «Ganz komisch» sei das gewesen. Vertraut, aber doch fremd. «Ich habe mich fast nicht getraut, sie zu küssen.» Das wollten beide nicht mehr erleben. Margarita suchte sich rasch einen Job in der Schweiz, gerade ist sie bei ihm eingezogen, mit Katze Simba.

Iiriti hat von den Superspreader-Events in einigen Kantonen gehört. Und sein Bruder erzählte ihm neulich von einem Rave mit 1000 Leuten. Dazu fällt ihm nur ein Wort ein: «Crazy.»

Corona fügt der Schweizer Erzählung gerade ein neues Kapitel hinzu. Auch wenn noch unklar ist, wie die Geschichte am Ende ausgehen wird, so sind die Tessiner doch jetzt schon ein Vorbild für uns alle.

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