Sensationsfund in Berner Museum
Lebt der kleine Goldhähnchentyrann noch?

Ein ausgestopfter Vogel weckt Hoffnung: Womöglich hat man den vermeintlich ausgestorbenen Tyrannen in der Vergangenheit schlicht am falschen Ort gesucht.
Publiziert: 26.08.2024 um 08:01 Uhr

Kurz zusammengefasst

  • Exemplar eines ausgestopften Goldhähnchentyrannen in Berner Museum entdeckt
  • Solche Funde könnten Hinweise auf bisher unbekannte Lebensräume von Tieren geben
  • Anzahl weltweit bekannter Präparate konnte von 55 auf 104 verdoppelt werden
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Peter AeschlimannRedaktor

Am Vormittag des 27. Oktober 1996 macht Ricardo Parrini die Entdeckung seines Lebens. Im brasilianischen Nationalpark Serra dos Órgãos, an einem verwunschenen Ort namens Buraco da Sunta, sieht der Biologe zwei Vögel in einer Baumkrone. Roter Kamm, auffallend kurzer Schwanz, dottergelbe Brust – alles deutet darauf hin, dass Parrini gerade den Heiligen Gral der Ornithologen-Szene gefunden hat: lebende Exemplare des seltenen Goldhähnchentyrannen, in der Fachsprache Calyptura cristata.

Zuletzt wurde der Winzling, rund acht Zentimeter lang, gegen Ende des 19. Jahrhunderts gesichtet. Seither nie wieder. Offiziell gilt der Goldhähnchentyrann zwar nicht als ausgestorben, Fachexperten hielten es jedoch bislang für höchst unwahrscheinlich, dass der Singvogel irgendwo überlebt haben könnte.

Dass jetzt, dreissig Jahre nach Parrinis Entdeckung, wieder etwas Hoffnung aufkeimt, hat abermals mit einem bemerkenswerten Fund zu tun, diesmal nicht im südamerikanischen Regenwald, sondern im Naturhistorischen Museum Bern. Dort tauchte nämlich jüngst ein ausgestopftes Exemplar des verschollenen Vogels auf – und löste damit unter Vogelkundlern ein mittleres Erdbeben aus. Was, wenn man die letzten Jahrzehnte schlicht am falschen Ort nach dem singenden Tyrannen gesucht hatte?

Der Goldhähnchentyrann wird nur 8 Zentimeter gross. Umso lauter soll sein Ruf sein.
Foto: Thomas Meier
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Manuel Schweizer, Ornithologe und Kurator des Berner Museums, drückt den Liftknopf fürs dritte Untergeschoss. Hier, hinter dicken Mauern, herrschen 15 Grad Celsius. Das muss so sein, damit sich Motten nicht vermehren können, die den Vögeln die Federn wegfressen.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie in einem Bibliotheksarchiv. Mit dem Unterschied, dass in den fahrbaren Regalen keine Bücher lagern, sondern präparierte Tiere. Dutzende Waldkäuze etwa, sorgfältig in einer Holzschublade gebettet, gleich gegenüber vom Schnabeltier und vom Äffchen mit den seltsam aufgerissenen Augen. Im Gang davor scheint ein Wasserbüffel ins Gespräch mit einem Steinbock vertieft. Eine Arche der toten Tiere.

36'874 Vogelobjekte

Der Goldhähnchentyrann residiert im Regalschrank Nummer 21. Ornithologe Schweizer, seit 2014 Kurator im Naturhistorischen Museum, wusste bis vor kurzem nichts von seiner Existenz. Nachdem ihn ein Forscher aus Südamerika kontaktierte und um eine Liste sämtlicher brasilianischen Vögel bat, die in Bern lagern, machte sich Schweizer an die Recherche. Und war einigermassen erstaunt, als auf seinem Computerbildschirm der Name Calyptura cristata aufpoppte.

36'874 Vogelobjekte enthält die Berner Sammlung – darunter, welche Überraschung, also auch den Goldhähnchentyrann! Als die Sammlung in den 90er-Jahren digitalisiert wurde, war niemandem aufgefallen, welcher Schatz da im Keller des Naturhistorischen Museums schlummert.

Um sich vor der giftigen Arsenseife zu schützen, mit der die Präparate früher zum Schutz vor Schädlingen eingerieben wurden, streift der Vogelkundler blaue Handschuhe über und nimmt den kleinen Piepmatz aus dem Regal. Seine Farben sind über die Jahre verblichen, vermutlich stand er lange Zeit an einem Ort, wo er der Sonne ausgesetzt war. Bekannt ist, dass das Goldhähnchen irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden und präpariert wurde, wie aber genau der spezielle Vogel nach Bern kam, ist nicht überliefert.

Ein Toggenburger in Brasilien

Dass Schweizers brasilianischer Kollege ausgerechnet in Bern nachfragte, ist indes keine Überraschung. Das Museum besitzt eine beeindruckende Sammlung brasilianischer Vögel. Zu verdanken hat man sie einem Toggenburger namens Emil August Goeldi. Der Naturforscher wanderte 1880 nach Südamerika aus, wo er dem Museum für Natur- und Volkskunde in Belém zu neuem Glanz verhalf. Bis heute trägt die Institution den Titel Museu Paraense Emílio Goeldi.

Als der St. Galler 1907 in die Schweiz zurückkehrte, um an der Universität Bern als Zoologie-Professor zu unterrichten, brachte er einen Teil seiner gesammelten Exponate aus Übersee als Leihgabe ins Naturhistorische Museum. Zwar war kein Goldhähnchentyrann darunter, doch ohne Goeldi hätte es die jüngste Anfrage aus Brasilien wohl nie gegeben, und das Berner Rubinkrönchen – wie es auch genannt wird – wäre unentdeckt geblieben.

Von seinem Zufallsfund angestachelt, kontaktierte Manuel Schweizer gemeinsam mit anderen Ornithologen weltweit Museen, um nach weiteren Präparaten Ausschau zu halten. Bislang ging man davon aus, dass 55 ausgestopfte Goldhähnchentyrannen existieren. Nachdem die Rückmeldungen eingegangen waren, konnte man die Anzahl auf 104 nahezu verdoppeln. Neue Erkenntnisse darüber, wo der Vogel sonst noch gelebt haben könnte ausser in seinem bekannten Habitat nördlich von Rio de Janeiro, hat man dabei leider nicht gewonnen.

Ornithologe Schweizer gibt die Hoffnung aber nicht auf. Vielleicht taucht ja bald in einem staubigen Keller eines Schulhauses ein weiteres Präparat auf, dessen Beschriftung auf eine Region hindeutet, die man bislang nicht auf dem Radar hatte. Denn in der Regel sind Präparate mit Datum und Fundort versehen.

Lebte der sehnlichst vermisste Vogel noch und wüsste man, wo man nach ihm suchen muss, wären die Chancen relativ gross, ihm sozusagen live zu begegnen. Eindringlingen in sein Revier begegnet das Tierchen ziemlich resolut, daher auch sein Familienname Tyrann. In einer Beschreibung von Calyptura cristata hielt ein Ornithologe 1852 fest: «Der Goldhähnchentyrann lebt paarweise und ernährt sich von Früchten und Insekten.» Ausserdem besitze der kleine Vogel einen «überraschend lauten Gesang».

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