Sie legte ihren Säugling ins Babyfenster – doch Mutterliebe liess ihr keine Ruhe
«Ich wollte mein Baby zurück»

Das eigene Kind beim Babyfenster abgeben und später wieder zurückfordern – nur wenige Mütter tun das. Eine junge Frau erzählt BLICK, weshalb sie zu jenen gehört.
Publiziert: 23.12.2019 um 23:13 Uhr
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Aktualisiert: 23.12.2020 um 20:03 Uhr
Rebecca Wyss

Es war an einem Abend, nach einem Tag im Büro, als ich mein Kind daheim im Badezimmer gebar. Ganz alleine. Vorbereitungen hatte ich keine getroffen. Ich fürchtete mich vor nichts. War ganz ruhig. Ich schnitt die Nabelschnur mit einer Schere durch, machte mein Kind mit einem Waschlappen sauber und legte mich danach mit ihm schlafen. Ich brauchte diese letzte Nacht mit ihm in meinen Armen. Um Abschied zu nehmen.

Früher sagte ich immer: Wäre ich schwanger, würde ich abtreiben. Ich sah mich nicht in der Mutterrolle. Ausserdem wollte ich im Job etwas erreichen. Dann war ich schwanger und fühlte immer mehr, wie da ein Mensch in mir heranwuchs. Jetzt spürte ich Verantwortung. Abtreiben kam nicht mehr in Frage. Aber was dann? Diese Frage trieb mich nächtelang um. Ich war verzweifelt. Das Kind zu behalten, war nicht möglich – ich hatte Angst, überfordert zu sein. Und es finanziell nicht zu schaffen. Vor allem als alleinerziehende Mutter. Mit dem Vater des Kindes rechnete ich nicht, wir sind nie ein Paar gewesen.

Noch während der Schwangerschaft entschied ich, es beim Babyfenster abzugeben. Ich wollte, dass es in gute Hände kommt. Der Entscheid brachte Erleichterung. Vorerst.

23 Mütter haben ihr Kind bislang bei einem Babyfenster der Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind abgegeben (Archivbild).
Foto: Keystone
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Sie verheimlichte alles

Von all dem erfuhr niemand etwas. Niemand schöpfte Verdacht. Wohl auch weil ich in jener Zeit so stark zunahm. Und ich sagte nichts. Ich komme aus einer kinderreichen Familie. Meine Eltern hätten bestimmt gut reagiert. Aber reden ging nicht. Vielleicht war ich mir einfach zu sehr gewohnt, alles selbst zu regeln. Hilfe anzunehmen, machte mir Mühe.

Nach der Geburt behielt ich mein Kind einen Tag lang bei mir. Trug es auf meinen Armen durch die Wohnung. Dann fuhr ich zum Babyfenster der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK). Im Bus lächelten uns Leute zu, sagten «Jöh», als sie das Kleine sahen. In mir drin weinte es. In jenem Moment hätte ich mir gewünscht, dass mich jemand anspricht, damit endlich alles herauskommt. Damit ich endlich zusammenbrechen kann.

Es tat mir weh, mein Kind wegzugeben. Ich fühlte mich auch als schlechte Mutter. Aber für mich gab es kein Zurück. Wegen meiner Ängste. Aber auch weil ich die Schwangerschaft so lange verschwiegen hatte. Ich konnte doch meinem Umfeld jetzt nicht plötzlich ein Kind präsentieren. Wie hätte ich das erklären sollen?

Plötzlich war da Mutterliebe

Als ich den Bus verliess, versuchte ich, nicht aufzufallen. Ich ging ruhig auf das Babyfenster zu, öffnete es und legte das Kleine vorsichtig auf die beheizte Matratze. Einen Brief legte ich nicht dazu. Es war jetzt an einem sicheren Ort, das war mir wichtig. Damit sollte alles abgeschlossen sein. Fertig.

Babyfenster: Manche fordern Kind zurück

Die Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) betreibt an sechs Standorten ein Babyfenster: Basel, Bellinzona, Bern, Davos GR, Einsiedeln SZ und Olten SO. Bisher haben die Mütter von 23 Kindern ihr Baby so abgegeben. Vier von ihnen verlangten ihr Kind zurück. Sieben weitere haben sich gemeldet und ihre Identität bekannt gegeben. Nach den leiblichen Eltern wird nicht geforscht. Sie haben aber ein Jahr lang das Recht, ihr Kind zurückzufordern. Erst nach dieser Frist wird eine Adoption abgeschlossen. Neben dem von der SMHK betriebenen Babyfenster bieten diese Dienstleistung auch die Spitäler Sitten und Zollikerberg an.

Die Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) betreibt an sechs Standorten ein Babyfenster: Basel, Bellinzona, Bern, Davos GR, Einsiedeln SZ und Olten SO. Bisher haben die Mütter von 23 Kindern ihr Baby so abgegeben. Vier von ihnen verlangten ihr Kind zurück. Sieben weitere haben sich gemeldet und ihre Identität bekannt gegeben. Nach den leiblichen Eltern wird nicht geforscht. Sie haben aber ein Jahr lang das Recht, ihr Kind zurückzufordern. Erst nach dieser Frist wird eine Adoption abgeschlossen. Neben dem von der SMHK betriebenen Babyfenster bieten diese Dienstleistung auch die Spitäler Sitten und Zollikerberg an.

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Das wars aber nicht. Daheim plagten mich Sorgen: Was, wenn es in eine schlechte Pflegefamilie kommt? Was, wenn es am Ende ins Heim gesteckt wird? Eine Horrorvorstellung. Und das Kleine fehlte mir sehr. Heute weiss ich, dass die Mutterliebe all das mit mir machte. Damit hatte ich nicht gerechnet! Früher verstand ich nicht, warum manche Mütter so ein Tamtam um ihr erstes Kind machen.

Sie wollte ihr Kind zurück

Nach fünf Tagen rief ich im Spital an. Ich wollte mein Baby zurück. Eine Hebamme nahm den Hörer ab, die arme Frau. Ich überfiel sie mit meinem Redeschwall. Nach so vielen Monaten Schweigen musste jetzt einfach alles raus. Ich weiss noch, dass ich immer wieder meinen Namen wiederholte. Sie sollte ihn nicht vergessen. Schliesslich hatte ich kein Schreiben hinterlassen, niemand wusste, zu wem das Kind gehört.

Ich rechnete mit Vorwürfen. Doch niemand verurteilte mich. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb), die zuständig war, wollte sehen, wie ich wohne und meine Familie kennenlernen. Und ich musste einen Mutterschaftstest machen. Aber ich durfte die Kleine sehen, bevor die Ergebnisse da waren. Ich erinnere mich noch gut an den Moment: Da machte diese fremde Frau, die Pflegemutter, mit meinem Kind auf dem Arm die Tür auf. Das war komisch. Als sie es mir übergab, versteifte sich mein ganzer Körper. Ich wollte es bloss nicht fallen lassen. Von da an besuchte ich es regelmässig. Und wir zwei gewöhnten uns aneinander. Fünf Wochen nach meinem Anruf beim Spital war mein Kind endgültig wieder bei mir.

Eltern reagierten enttäuscht

Nicht alles verlief reibungslos. Mein Verheimlichen war echt ein Problem. Ich nahm mir vor, jeden Tag jemandem in meinem Umfeld einzuweihen. Allen voran meine Eltern. Sie waren enttäuscht von mir. Glaubten, dass ich ihnen nicht vertrauen würde. Der Sturm legte sich aber bald. Am meisten Bammel hatte ich vor der Reaktion des Kindsvaters. Für ihn war es tatsächlich ein Schock. Er brauchte ein halbes Jahr, bis er bereit war, sein Kind zu sehen. Heute ist es oft bei ihm.

Jetzt ist das alles einige Jahre her. Ich kann mir ein Leben ohne mein Kind gar nicht mehr vorstellen. Manchmal frage ich mich heute, wieso ich es mir und allen so schwer gemacht habe. Aber ich konnte einfach nicht anders. So waren die Umstände nun mal. Und ich bin unglaublich froh, dass man sein Kind wieder zurückbekommt, auch wenn man es beim Babyfenster abgegeben hat.

Ob ich dem Kleinen einmal erzählen werde, was passiert ist, weiss ich nicht. Noch bleibt Zeit, noch ist es nicht mal in der Schule. Ich weiss nur: Wenn es mich einmal fragen sollte, werde ich nicht lügen.

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