Tragödien-Jahr 2015
Wir trauern wieder öffentlich

Etwas Ungewohntes entstand in diesem miesen Jahr 2015. Wann immer eine Tragödie geschah, passierte es: Das Netz füllte sich mit Trauer.
Publiziert: 30.12.2015 um 07:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 16:46 Uhr
Menschen trauern um die Opfer der Terror-Anschläge in Paris. Zwei der Attentäter waren nach Auskunft der französischen Staatsanwaltschaft gemeinsam über Griechenland in die EU gereist.
Foto: KEYSTONE/AP/CHRISTOPHE ENA
Von Adrian Meyer

Menschen weinten auf Facebook, Twitter oder Instagram um die unbekannten Opfer von Anschlägen und Flugzeugabstürzen, sie solidarisierten sich mit ihnen, um den Schock zu verarbeiten.

Und dann, man kann es noch immer kaum glauben, gab es Unzählige, die sich an dieser Trauer störten. Warum bloss?

Tatsächlich tobte in diesem Jahr auf Social Media ein Streit darüber, wie man richtig trauert. Und zwar bereits beim Attentat auf die Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo» im Januar, als sich Millionen unter dem Slogan «Je suis Charlie» solidarisierten und ihr Facebook-Profil mit dem Spruch hinterlegten. Sofort entstand eine Gegenbewegung.

Unter «Je ne suis pas Charlie» versammeln sich jene, die das Magazin für islamfeindlich halten. Anstatt die Gesellschaft zu einigen, entzweit der Slogan.

Ein Kleinkrieg bricht nach den Pariser Anschlägen vom 13. November im Netz aus. Wieder sprechen unzählige Menschen den Opfern des islamistischen Terrors ihr Beileid aus. Sie trauern öffentlich um Menschen, die sie nicht kennen, die ihnen aber vertraut scheinen. Viele tauschen erneut ihr Facebook-Profil aus, diesmal mit einer Frankreich-Flagge oder mit dem Spruch «Beten für Paris».

Und erneut hagelt es Kritik: Warum benutzt ihr religiöse und nationalistische Symbole? Warum habt ihr nicht um die Opfer der Anschläge in Beirut geweint? Oder um jene, die die Terrorbande Boko Haram in Nigeria massakrierte?

Im Moralinrausch stänkern die Tragödien-Hipster, die für sich in Anspruch nehmen, vor allen anderen jedes noch so unbekannte Opfer von Krieg und Katastrophen beweint zu haben. Sie wiegen Tote mit Toten auf. Statt für einen Moment Betroffenheit zuzulassen. Und zu schweigen.

Auf einmal wird ein Streit sichtbar, der sich bisher nur im privaten Rahmen abspielte: Trauerkritik. «Trauerkritik ist eigentlich nichts Neues», sagt die Soziologin und Trauerforscherin an der Universität Zürich, Nina Jakoby (39). «Die Vorstellungen über die korrekte Art zu trauern liegen in zwischenmenschlichen Beziehungen weit auseinander.»

Das war nicht immer so. Bis ins 18. Jahrhundert war Trauer um verstorbene Angehörige verbunden mit klar festgelegten öffentlichen Ritualen und Zeremonien. Im

19. Jahrhundert entwickelte sich ein Trauerkult mit sozial genormten Verhaltensweisen – etwa die schwarze Witwentracht, die Frauen monatelang trugen. Trauer wurde zum Statussymbol: je reicher eine Familie war, desto pompöser die Totenfeier. Im 20. Jahrhundert verschwand die Trauer aus der Öffentlichkeit. Sie wurde etwas Persönliches, Privates, mit dem man alleine umgehen musste.

Mit Internet und Social Media entsteht wieder eine neue Öffentlichkeit, in der Trauer regelmässig ausgedrückt wird. Seien es Beileidsbekundungen auf Facebookseiten verstorbener Freunde, die RIP-Storms, wenn Prominente ableben – «Rest in Peace Lemmy» – oder eben spontane Trauer um unbekannte Opfer von Terroranschlägen.

Während bereits unter Angehörigen richtiges Trauern schwer möglich scheint, ist im Netz, wo nun millionenfach individuelle Trauerideale aufeinanderprallen, eine korrekte Trauerperformance fast unmöglich. «Diese Art von öffentlichen Trauer- und Solidaritätsbekundungen im Netz sind sehr ambivalent», sagt Soziologin Jakoby. «Die Grenzen zur Selbstdarstellung sind fliessend.»

Mittlerweile ist dies für viele ein Ritual geworden. «Der Sinn eines solchen Rituals liegt im Ritual selbst begründet», sagt Jakoby. «Es gibt ein wenig Halt in Zeiten der Ohnmacht.» Anders gesagt: Das Netz wird in solchen Momenten zur virtuellen Selbsthilfegruppe. Man vergewissert sich seiner Werte, sucht Halt, Bestätigung. Seine Betroffenheit auf Facebook zu zeigen, hat eine ähnliche Funktion wie das Niederlegen von Blumen oder das Anzünden von Kerzen.

Deshalb gilt, die Trauer im Netz zu ertragen, anstatt sie zu kritisieren – mag sie noch so unbeholfen, kitschig, schnelllebig und selektiv sein. Trauernden kann man keine guten Ratschläge erteilen. Man muss sie aushalten. ihnen zuhören. Und für einmal schweigen.

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