Experten analysieren Seco-Zahlen
«Jugend-Arbeitslosigkeit dürfte viermal höher sein»

Die Schweizer Wirtschaft wächst und wächst. Das spürt der Arbeitsmarkt: Die Arbeitslosenquote war 2018 so tief wie seit zehn Jahren nicht mehr. Im Schnitt bei 2,6 Prozent. Bei den jungen Arbeitslosen trauen die Experten den Zahlen aber nicht.
Publiziert: 08.01.2019 um 18:42 Uhr
Christian Kolbe

Das Jahr 2018 war ein aussergewöhnlich starkes Wirtschaftsjahr. Fast drei Prozent könnte das Bruttoinlandprodukt (BIP) im vergangenen Jahr in der Schweiz gewachsen sein. So lautet die optimistischste Schätzung für die Entwicklung der Schweizer Wirtschaft. Dieses rasante Wachstum kann nicht spurlos am Arbeitsmarkt vorbeigehen. 

Bei durchschnittlich 2,6 Prozent lag die Arbeitslosenquote 2018, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mitteilt. 2017 lag diese noch bei 3,2 Prozent. Dieser Wert ist so tief wie seit zehn Jahren nicht mehr, also zur Zeit, als die Finanzkrise noch keine grossen Folgen für den Arbeitsmarkt hatte.

Dieser starke Rückgang überrascht selbst Experten: «Der Arbeitsmarkt in der Schweiz hat sich noch besser entwickelt als erwartet, das ist sehr erfreulich», sagt Michael Siegenthaler (33), Arbeitsmarktspezialist bei der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich. Und der Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff (59) gerät beinahe ins Schwärmen: «Die Schweizer Wirtschaft hat ein tolles Jahr hinter sich, das Wachstum lag weit über dem Potenzial. Das schlägt auf den Arbeitsmarkt durch, in der Schweiz herrscht Vollbeschäftigung.» 

Im Schnitt 2,6 Prozent: Die Arbeitslosenquote in der Schweiz war 2018 so tief wie seit zehn Jahren nicht mehr.
Foto: Keystone
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Arbeitslosigkeit wird nur noch leicht sinken

Nur: So wird es nicht weitergehen, der rasante Rückgang der Arbeitslosigkeit wird sich verlangsamen, darin sind sich bei beiden Experten einig. Das hat auch damit zu tun, dass die Schweizer Wirtschaft dieses Jahr nicht mehr so stark wachsen wird. Doch bis das wirklich auf den Arbeitsmarkt durchschlägt, dauert das eine Weile.

Das Seco rechnet für 2019 noch mit einem leichten Rückgang, prognostiziert eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 2,4 Prozent. Neff von Raiffeisen ist etwas pessimistischer: «Die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums wird in diesem Jahr zu keinem markanten Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Weiter zurückgehen wird die Quote aber auch nicht», so der Chefökonom.

Die Angst um den Job ist in der Schweiz kleiner geworden, das hat das CS-Sorgenbarometer kürzlich gezeigt. Trotzdem verunsichern all die Berichte über Stellenabbau in der Schweizer Wirtschaft.

KOF-Experte Siegenthaler hat dafür eine Erklärung: «Die Wahrnehmung ist schlimmer als die Realität. Das hat damit zu tun, dass Meldungen über Stellenabbau viel eher wahrgenommen werden als der langsame Aufbau neuer Stellen.» Jobs verschwinden, neue entstehen, allerdings nicht unbedingt dort, wo sie gestrichen wurden: «Wir werden immer mehr zur Dienstleistungsgesellschaft. In diesem Sektor werden die meisten Stellen geschaffen. Das produzierende Gewerbe dagegen schafft kaum noch Stellen», so Neff.

Verzerrte Statistik

Die tiefe Arbeitslosenquote zeige aber auch, dass die Schweizer Wirtschaft den stetigen Strukturwandel bewältige, so Siegenthaler von der KOF. Viele Menschen schafften es, sich an die wandelnden Anforderungen der Wirtschaft anzupassen – durch Umschulung oder Weiterbildung. 

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist also kein gravierendes Problem, doch in einigen Bereichen geben die offiziellen Seco-Zahlen ein etwas verzerrtes Bild des Arbeitsmarkts wieder: «Die Jugendarbeitslosigkeit wird stark unterschätzt. Diese dürfte in der Schweiz ungefähr viermal höher sein als ausgewiesen.» 

Das hat damit zu tun, dass in Statistik des Seco nur diejenigen Arbeitslosen auftauchen, die sich auch auf dem Arbeitsamt gemeldet und ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld angemeldet haben. Gerade Jugendliche verzichten oft auf diesen Schritt, da sie sich bei ihren tiefen Anfangslöhnen keine grosse Unterstützung versprechen. 

ILO-Arbeitslosigkeit ist höher

Viele andere Länder folgen den Vorgaben der International Labour Organization ILO. Die ILO-Statistik berücksichtigt die Erwerbslosen, also alle Menschen, die auf Jobsuche sind – egal ob sie beim Arbeitsamt gemeldet sind oder nicht. Gemäss Schätzung von Siegenthaler dürfte die ILO-Arbeitslosenquote für die Schweiz 2018 bei 4,5 Prozent liegen. 

In dieser Statistik werden auch die Ausgesteuerten mitgezählt. Also Menschen, die schon so lange arbeitslos sind, dass sie keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld haben. Das betrifft oft ältere Arbeitnehmer: «Wir haben in der Schweiz kein grundsätzliches Problem mit Altersarbeitslosigkeit. Ältere Personen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, haben aber häufig deutlich grössere Schwierigkeiten, wieder in den Arbeitsprozess zurückzufinden», erklärt Siegenthaler.

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