Darum wanderte Milena Moser aus
«Wem gehört mein Leben?»

Sie gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. In ihrem neuen Roman beschreibt Milena Moser, wie eine Entscheidung ein Leben in Bahnen lenken kann. Ein Gespräch über Mütter, die ihre Kinder verlassen, die Trump-Jahre und die Kraft der Freundlichkeit.
Publiziert: 20.02.2022 um 18:40 Uhr
Interview: Benno Tuchschmid

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen?
Ich sitze gerade in der Stube. Und wenn ich rausschaue, sehe ich einen riesigen Baum. Normalerweise sitzen dort Katzen und gucken rein. Wir nennen dieses Fenster auch Katzen-TV.

Sie leben seit 2015 in den USA, seit einigen Jahren in San Francisco. Gibt es ab und zu Momente, in denen Sie sich fragen: Wo bin ich gelandet?
Ja, immer wieder. Wir sind zu alt für diese Stadt, wir sind zu arm für diese Stadt – aber wir haben trotzdem ein Haus in dieser Stadt. Mein Mann Victor hat es in den 90er-Jahren gekauft, noch bevor die Tech-Unternehmen im Silicon Valley die Preise in die Höhe trieben. San Francisco ist wahnsinnig schön – aber irgendwie auch feindliches Territorium.

In Ihrem neuen Buch muss die Hauptfigur Helen als Kind eine Entscheidung treffen. Diese entscheidet, wie sich ihr Leben entwickeln wird. «Mehr als ein Leben» erzählt von den verschiedenen Leben, die wir leben können.
Mein Mann Victor ist Tolteke (Volksgruppe in Mexiko, Anm. d. Red.). Bei den Tolteken glaubt man, jeder Mensch habe dreizehn Leben in dieser Dimension, plus neun weitere in einer anderen Dimension. Das war mir dann fürs Buch doch zu viel, dafür reicht mein Hirn nicht (lacht). Aber die Frage: Was wäre wenn, die beschäftigt uns doch alle. Das ungelebte Leben zu Ende zu denken, hat mich wahnsinnig gereizt.

Für Schriftstellerin Milena Moser ist Schreiben Normalität.
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena Moser

Milena Moser (58) stammt aus Zürich. Nach einer Buchhändlerlehre zog sie mit 21 nach Paris, wo sie ihre ersten, bisher unveröffentlichten Romane schrieb. Den Durchbruch als Schriftstellerin schaffte sie mit «Die Putzfraueninsel», weitere Bestseller wie «Schlampenyoga» folgten. Am 22. Februar veröffentlicht sie ihr 23. Buch, «Mehr als ein Leben», im Kein & Aber Verlag. Moser ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Seit 2015 lebt sie in den USA.

Milena Moser (58) stammt aus Zürich. Nach einer Buchhändlerlehre zog sie mit 21 nach Paris, wo sie ihre ersten, bisher unveröffentlichten Romane schrieb. Den Durchbruch als Schriftstellerin schaffte sie mit «Die Putzfraueninsel», weitere Bestseller wie «Schlampenyoga» folgten. Am 22. Februar veröffentlicht sie ihr 23. Buch, «Mehr als ein Leben», im Kein & Aber Verlag. Moser ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Seit 2015 lebt sie in den USA.

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Gibt es ein Richtig oder Falsch im Leben?
Ich wollte nicht, dass die Leser ein Leben besser finden, als das andere ist. Aber ich musste merken, dass die meisten mit Luna sympathisieren. Der Figur, die selbstbestimmt ausbricht. Das hat mir für die andere Figur, Elaine, sehr leidgetan. Es gibt sicherlich mehr Elaines als Lunas im richtigen Leben. Auch ich bin eher eine Elaine – bis 50 habe ich immer den Weg gewählt, den man von mir erwartet hat.

Was hat Sie dazu bewogen, vor sieben Jahren mit 50 alleine in die USA auszuwandern?
Der wichtigste Grund, wieso ich alles über den Haufen warf, war: Es gab Dinge, die ich schreiben wollte – aber dafür einfach keinen Platz in meinem Leben fand. Das war, den Generationenroman «Land der Söhne» zu verfassen. Oder eben «Mehr als ein Leben» zu schreiben.

Was gab Ihnen den Mut für diese Entscheidung?
Es war kein Mut. Ich bin damals schlicht an meine Grenzen gekommen. Meine Ehe brach auf unschöne Art und Weise auseinander, ich zweifelte viel, arbeitete zu viel und hatte wohl ein Burn-out, ohne es zu merken. So kam der Moment, an dem ich mich fragte: Wem gehört mein Leben?

Also gingen Sie.
Ja, aber das war nicht einfach. Vor allem, dass ich meine Kinder zurückliess, wurde mir massiv vorgeworfen. Obwohl sie schon erwachsen waren. Es ist nicht normal, dass die Mutter geht.

Die Kinder haben zu gehen, nicht die Mutter.
Ja. Natürlich vermisse ich meine Kinder wahnsinnig. Sie aber warfen es mir nie vor. Meine Mutter schon. Ich hab ihr immer gesagt: Ich bin schnell im nächsten Flugzeug. Sie entgegnete: Was, wenn du nicht ins Flugzeug kannst? Am Ende ihres Lebens konnte ich nicht zu ihr in die Schweiz ins Spital, wegen Corona. Es traf genau ein, was sie voraussagte.

Wie hat sich die USA seit 2015 verändert?
Die Trump-Jahre hatten für mich persönlich erstaunlich weitgreifende Konsequenzen. Ich will und kann nicht ins Detail gehen. Aber ich hatte Probleme mit den Einwanderungsbehörden, die es vorher nicht gab. Nicht zuletzt: Zu erleben, was es bedeutet, mit einem nicht-weissen Mann in einem zunehmend ausländerfeindlichen Klima zu leben, wo Rassismus offen ausgelebt wird, war erschreckend.

Aber San Francisco ist doch eine liberale Hochburg ...
Selbst in San Francisco hat sich der Ton verschärft. Das merkst du vor allem an Orten, wo sich verschiedene Schichten mischen. Zum Beispiel im Spital, wo wir wegen Victors Krankheit oft waren. Oder auf Ämtern. Da spürten wir wirklich ungefilterte Wut, die schnell in Gewalt umschlagen kann. Es gab Momente in den letzten Jahren, wo ich mir überlegt habe, ob wir wegmüssen.

Sie sind geblieben.
Wir sind hier zu Hause. Den ungebrochenen Optimismus, den viele Menschen hier haben, gefällt mir immer noch sehr. Die Freundlichkeit im Alltag. Das fehlt mir in der Schweiz extrem. In der Schweiz habe ich das Gefühl, man müsse sich dauernd gegen Genörgel und Kritik schützen. Ich bin noch nicht bereit, die USA aufzugeben.

Diese Freundlichkeit ist doch oberflächlich.
Wenn dir die Frau an der Kasse sagt: «Wow, Sie haben aber schöne Ohrringe», ist das natürlich oberflächlich. Aber wenn in der Migros jemand «Lueg mal, die hat ihre Äpfel nicht abgewogen» schnauzt, ist das genauso oberflächlich. Oberflächliche Freundlichkeit macht den Alltag einfacher. Oberflächliche Unfreundlichkeit macht ihn schwierig.

Fürsorge ist ein Gefühl, das Ihre Hauptfigur Helen stark prägt. Helen kümmert sich um alle. Haben Sie da Dinge aus Ihrem eigenen Leben fürs Buch daraus abgeleitet? Ihr Mann Victor ist chronisch krank – und Sie verbrachten in den letzten Jahren viel Zeit in Spitälern.
Nicht direkt. Was ich mit Elaine und Helen teile, ist die Erkenntnis, viel mehr bewältigen zu können, als ich jemals dachte. Aber wissen Sie, Victor ist ein Sonderfall.

Inwiefern?
Er ist immer gut gelaunt. Auch wenn es ihm schlecht geht, wenn er Schmerzen hat, versucht er, dem Moment etwas abzugewinnen. Das macht es mir einfacher. Ausserdem, Holz anfassen, geht es ihm jetzt ja sehr viel besser.

Leser und Leserinnen, die ebenfalls jemanden pflegen, mögen Ihre Kolumne und reagieren emotional darauf. Aber es gibt auch Leser, die sagen …
Moser, lass mich mal in Ruhe mit diesen Spitalgeschichten.

Genau. Wieso?
Eine Palliativ-Medizinerin hat mir vor kurzem erklärt, das Wichtigste sei, die Dinge beim Namen zu nennen. Das Einzige, was wir alle wissen: Wir werden sterben. Und doch wird nichts mit so viel Willenskraft verdrängt. Je mehr man sich vor der Tatsache schützen will, dass wir alle früher oder später sterben, desto mehr nervt es einem, wenn darüber geredet wird. Ich kann das auch total nachvollziehen. Aber es gibt ja auch andere Kolumnen, die man lesen kann.

Wie war das Leben während der Pandemie mit einem Menschen, der gleich zu mehreren Risikogruppen gehört?
War? Die Schweiz hat Covid jetzt abgeschafft, gell?

Ja, wir haben damit aufgehört.
Wir sind hier immer noch sehr vorsichtig. Victor hat kein Immunsystem. Meine grösste Angst ist, ihn anzustecken, ohne es zu merken. Unser Glück ist, dass wir Platz haben. Victor hat seine Werkstatt, ich habe mein Schreibhäuschen, wir haben einen Garten. Aber gerade Victor hat das Soziale sehr vermisst. Und ich das Reisen.

Zurück zum Buch. Ihre Hauptfigur putzt gerne.
Ich nicht.

Worauf ich hinaus will: Elaine schämt sich in einer Szene dafür. Weil sie doch zur ersten Generation Frauen gehöre, denen alles offen stand. Sehen Sie das auch so?
Nein. Ich gehöre zur ersten Generation Frauen, denen vorgemacht wurde, sie könnten alles machen. Okay, im Beruf kommen wir vielleicht weiter als die Generation vor uns, aber wehe du hast Kinder. Dann wird es sofort wieder schwierig.

In Ihrer Familie schreiben alle. Ihr Bruder, Ihre verstorbenen Eltern. Ist das Fluch oder Segen?
Beides. Wir sind monothematisch aufgewachsen. Es lag nah, zu schreiben, das war nichts Abgehobenes für mich. Ich erlebte als Kind viele Dinge, die mich später schützten.

Was?
Wenn die Freunde meines Vaters zu Besuch kamen, wurden immer über jene geredet, die nicht da waren. Es wurde geschnödet, welcher Autor weshalb zu Unrecht welchen Preis bekommen hat. Am Ende hiess es immer: «Aber unsterblich macht ihn das nicht.» Ich fragte mich als Kind, was das bedeuten sollte.

Und was haben Sie daraus gelernt?
Ich halte mich dem Literaturbetrieb fern. Ich konzentriere mich aufs Schreiben. Damit werde auch ich nicht unsterblich, dafür aber auch nicht unglücklich.

Mehr als ein Leben

In ihrem neuen Roman «Mehr als ein Leben» erzählt Milena Moser zwei Versionen eines Lebens zwischen Mutter und Vater, Europa und Amerika, Verantwortung und Freiheit. Die Geschichte nimmt einen mit auf die Lebensreise von Helen. Eine tief reichende Geschichte über Entscheidungen, Liebe, Identität und darüber, wie uns die Menschen prägen, die uns nahe sind.

Milena Moser, «Mehr als ein Leben», Kein & Aber. Erscheint am 22. Februar.

In ihrem neuen Roman «Mehr als ein Leben» erzählt Milena Moser zwei Versionen eines Lebens zwischen Mutter und Vater, Europa und Amerika, Verantwortung und Freiheit. Die Geschichte nimmt einen mit auf die Lebensreise von Helen. Eine tief reichende Geschichte über Entscheidungen, Liebe, Identität und darüber, wie uns die Menschen prägen, die uns nahe sind.

Milena Moser, «Mehr als ein Leben», Kein & Aber. Erscheint am 22. Februar.

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