«Die Rolle eines Zweitgeborenen ist undankbar»
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Historiker über «Reserve»:«Die Rolle eines Zweitgeborenen ist undankbar»

Historiker Leonhard Horowski (50) über den Fall Harry
«Monarchie ist ein Zufallsgenerator für Katastrophen»

Gab es so etwas wie Harry schon einmal? Der Historiker Leonhard Horowski gibt faszinierende Einblicke in die Parallelen zwischen dem Zoff im Hause Windsor und der bizarren Geschichte der europäischen Königshäuser.
Publiziert: 14.01.2023 um 16:02 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2023 um 11:26 Uhr
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft
Glitzer-Paar: Prinz Harry und Meghan an einer Award-Show in London am 5. März 2020.
Foto: WireImage

Alle reden über Harry. Und Harry liefert zuverlässig Gesprächsstoff. In seiner Autobiografie «Spare» (auf Deutsch: «Reserve») schreibt er über Streit in der Königsfamilie, seine rauschhafte Jugend und über Erfrierungserscheinungen an seinen primären Geschlechtsteilen nach einer Benefiz-Reise zum Nordpol. Gab es so etwas schon einmal? Kaum jemand kann das besser beantworten als der Historiker Leonhard Horowski, Autor des Buchs «Das Europa der Könige» und Experte für die Geschichte der Monarchie.

Sie haben sich als Historiker mit Generationen von europäischen Königsfamilien befasst. Hat sich schon einmal ein Prinz öffentlich zum Zustand seines Penis geäussert?
Leonhard Horowski: Öffentlich sicher nicht. Sie möchten aber nicht wissen, was die früher geredet haben. Das war zum Teil drastisch.

Haben Sie ein Beispiel?
In seinen Memoiren gibt Lord Hervey, der 1737 am britischen Königshof Vize-Oberkammerherr war, seine Diskussion mit Königin Caroline wieder, in der es darum geht, ob Carolines Sohn impotent ist oder nicht. Die beiden reden da über die Möglichkeit, dass jemand anders des Prinzen Gemahlin schwängern könnte, indem er sich nachts in das Schlafzimmer einschleicht.

Vorehelicher Sex, Substanzmissbrauch und Gewalt unter Brüdern: Was Harry in seiner Biografie beschreibt, scheint in Königshäusern nichts wirklich Neues zu sein.
Nein. Was wir hier vorgesetzt bekommen, ist sogar eher eine weichgespülte, moderne Version einer Königsfamilie, in der zum Beispiel ein Prinz seinen Vater Pa nennt. Das hätte mal einer im 18. Jahrhundert versuchen sollen!

Wie nannte man da als Prinz seinen Vater?
Etwa «Euer Gnaden» oder «Mein Herr Vater».

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Seit der Französischen Revolution wissen die Monarchen, dass man sie abschaffen kann, und wenn sie Pech haben, sogar Schlimmeres. Deswegen sind sie seitdem fast panisch darum bemüht, beliebt zu sein.
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Heute spricht die ganze Welt über das britische Königshaus. Gab es für Könige des 17. Jahrhunderts so etwas wie die Öffentlichkeit?
Ja, aber eine andere als heute. Damals ging es hauptsächlich darum, im Ausland andere Monarchen zu beeindrucken. Im eigenen Land spielte es höchstens noch eine Rolle, wie der hohe Adel über einen dachte. Wie das breite Volk sie wahrnahm, interessierte Königinnen und Könige lange herzlich wenig.

Wann änderte sich das?
Seit der Französischen Revolution wissen die Monarchen, dass man sie abschaffen kann, und wenn sie Pech haben, sogar Schlimmeres. Deswegen sind sie seitdem fast panisch darum bemüht, beliebt zu sein. Diese Angst vor öffentlicher Missbilligung ist auch ein Motiv in der Geschichte Harrys. Er beschreibt ja den intensiven Wettbewerb innerhalb der Familie darum, wer in der Öffentlichkeit am besten ankommt.

Harry erreicht mit seiner Kampagne allerdings gerade das Gegenteil. Er wird immer unbeliebter.
Ja. In den Reaktionen auf das Buch sagen selbst jene, die eigentlich auf Harrys und Meghans Seite waren: Wir verstehen, was ihr wollt, aber so wird das nichts.

Wieso beklagt sich Harry über nichts mehr als über die Medien und sucht gleichzeitig permanent die Öffentlichkeit?
Da spielt Meghan sicher keine unwesentliche Rolle. Sie kommt aus dem US-Promi-System und dachte fälschlicherweise, dass die Monarchie auf derselben Bühne spielt. Als Hollywood-Promi muss man ständig auf sich aufmerksam machen, und wenn man angegriffen wird, wehrt man sich öffentlich. Die britische Familie hat dagegen einen kleinen Rest aristokratischer Attitüde behalten und reagiert auf mediale Angriffe mit Schweigen.

Woher kommt Harrys tiefer Hass auf die Presse?
Er ist überzeugt, dass die Medien seine Mutter umgebracht haben. Obwohl ein Sicherheitsgurt und ein nüchterner Chauffeur gereicht hätten, um zu überleben. Aber natürlich haben die Medien Diana das Leben schwer gemacht.

Nicht nur ihr.
Nein. Es ist ein nachvollziehbarer Kern von Harrys Vorwürfen, dass er und seine Familie seit Geburt von der Presse verfolgt und bedrängt werden. Die Frage stellt sich deshalb umso mehr: Wieso entblösst er sich freiwillig?

Harry hadert stark mit seiner Rolle als Zweitgeborener. Angenommen, er hätte vor 300 Jahren gelebt: Wie wäre er mit seiner Frustration umgegangen?
Im 12. Jahrhundert wartet Harry, bis sein Bruder bei einem dubiosen Jagdunfall umkommt, sperrt dann seinen zweiten Bruder ein und besteigt den Thron. So tat es Heinrich I. (1068–1135). Im 15. Jahrhundert hätte Harry nach dem Ableben Williams dessen Söhne in den Tower geworfen und sie umgebracht, um dann selbst König zu werden. Damals ging es allerdings auch noch um echte Macht und Besitz.

Familienbande: Richard III. (1452–1485) warf nach dem Tod seines Bruders dessen Söhne in den Tower und liess sie später umbringen.
Foto: Getty Images

Schon Shakespeare schrieb über Verrat und Hass am englischen Hof. Steckt Drama in der DNA der britischen Königshäuser?
Die britische Monarchie ist in dem Punkt nicht speziell, sondern heute einfach die prominenteste der übrig gebliebenen. Es gab überall dieselben Tragödien. Alles in den Schatten gestellt haben die russischen Herrscherhäuser, dort herrschten wirklich Mord und Totschlag.

Harry schreibt in seinem Buch auch ausführlich über seine Kriegserfahrung. Wie ordnen Sie das als Historiker ein?
Es ist faszinierend. Ich freue mich immer, wenn ich einen der uralten Faktoren wiedertreffe. Die Nähe zwischen Monarchie und Militär erlebt man heute meist nur noch in Form von Paraden. Harry erinnert daran, dass es historisch völlig normal war, dass Angehörige des Königshauses in den Krieg zogen und sich als Krieger verstanden.

Harry genoss seine Zeit im Krieg.
Viele empfanden das militärische Umfeld als Befreiung, wie Harry. Früher hatten Angehörige der Königsfamilie zwar nicht mit Paparazzi zu kämpfen, aber sie fühlten sich von Höflingen genauso beobachtet und eingeengt. Militär und Jagd waren Möglichkeiten, dieser Enge zu entfliehen. Da konnte man mal kurz allein sein.

Kriegsprinz: Harry am Maschinengewehr eines Panzers in der afghanischen Helmand-Provinz, im Februar 2008.
Foto: Tim Graham Photo Library via Getty Images

Auch die Rolle von Meghan, die als Prinzessin aus einem anderen Land an den Hof kommt, ist nicht neu.
Meghans Problem ist nicht nur, dass sie in ein fremdes Land einheiratet. Dieses Problem hatten Prinzessinnen früher auch. Sie heiratet auch in eine andere Schicht ein – und zwar in eine, die sich seit 1000 Jahren als etwas Besseres sieht.

Aber Kate Middleton stammt auch aus einer bürgerlichen Familie.
Kate Middleton verkörpert die übereifrige Schülerin, die alle Spielregeln auswendig weiss, wahrscheinlich besser als ihr Mann – und sie ist damit das perfekte Gegenstück zu Meghan Markle, die von aussen kam und ihre eigenen Spielregeln mitbringen wollte. Die zwei sind nicht dafür gemacht, miteinander gut auszukommen.

Früher stammen Prinzessinnen aus der identischen sozialen Schicht, waren meistens sogar Cousinen des jeweiligen Ehepartners. Probleme gab es trotzdem.
Marie-Antoinette litt in Versailles unter einem Kulturschock und fühlte sich eingeengt. Noch schlimmer war es für Frauen, die an den spanischen Hof verheiratet wurden. Dort herrschten für weibliche Adelige fast schon saudi-arabische Verhältnisse.

Welche Rolle spielten eigentlich Frauen an europäischen Höfen?
Natürlich war ein Königshof früher ein streng patriarchales Regime. Aber weil in einer Monarchie niemand ein förmliches Mitspracherecht hat, war alle Politik informell. In einem System, in dem die Macht von Familien ausgeht, bedeutet das zwangsläufig, dass Frauen eine tragende Rolle spielen. Schon nur, weil Fortpflanzung ohne Frauen nicht möglich ist. Die Rolle der Frauen am Hof wird unterschätzt.

Wieso änderte sich das?
Die Idee, dass Politik ohne Frauen stattfindet, kam erst Ende des 18. Jahrhunderts auf. Mit der Französischen Revolution gab es dann plötzlich ein Menschenrecht auf politische Teilhabe des Individuums. Aber weil die Gesellschaft eben immer noch patriarchalisch war, galt das nicht für Frauen.

Im Streit zwischen Harry, Meghan und den Windsors geht es auch immer wieder um Rassismus.
Das Problem des Rassismus hat sich innerhalb der Königshäuser lange gar nicht gestellt. Es gab keine nicht weissen Dynastien, mit denen man sich ebenbürtig verheiraten konnte, weil die alle nicht christlich waren. Ausserdem waren die Königsfamilien ja so elitär, dass sie auch 99,9 Prozent der Menschen mit derselben Hautfarbe als unterlegen und deshalb als nicht heiratswürdig sahen.

Familienaktivität: Die Windsors beobachten vom Balkon des Buckingham--Palasts aus einen Überflug von Militärjets im Juni 2018.
Foto: Getty Images

Wieso interessieren wir uns überhaupt noch für das britische Königshaus?
Ein Königshaus besteht aus Leuten, die durch den Zufall der Geburt dort landeten wurden und darum auch ständig alle möglichen Fehler machen. Monarchie ist ein Zufallsgenerator für Katastrophen. Promis und Politiker sind eher nach Talent ausgewählt und haben sich besser im Griff. Dazu kommt: Sobald man über den Familienstreit bei den Windsors diskutiert, denkt man an seine eigene Familie. Sobald man über Harry und William redet, denken alle an ihre eigene Geschwisterbeziehung.

Das ist alles?
Die Royals bleiben natürlich auch ein sozialer Gradmesser. Die höchste Auszeichnung in Grossbritannien ist nach wie vor ein Orden vom Königshaus. Wer mit den Royals befreundet ist, hat als Bürgerlicher die höchste soziale Schicht erreicht. Dazu kommt, dass heute tatsächlich jeder Mann und jede Frau theoretisch einen Prinzen oder eine Prinzessin heiraten kann.

Wird es in 50 Jahren die britische Monarchie noch geben?
Meine Prognose: ja. Die Monarchie hat die Schwerkraft auf ihrer Seite. Man muss aktiv viel tun, um sie abzuschaffen. Auch wenn sie viele nicht mehr sehr lieben, gibt es auch nicht viele, die sich allzu sehr anstrengen, um sie abzuschaffen.

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