Interview mit dem Philosophen Markus Gabriel
«Es ist geradezu unmoralisch, auf Twitter zu sein»

Markus Gabriel ist der philosophische Star der Stunde. Der 42-Jährige ist zwar hip und auf allen Kanälen präsent. Die sozialen Netzwerke hingegen hält er für eines der grössten Übel der Menschheit.
Publiziert: 02.07.2022 um 14:04 Uhr
Interview: René Scheu

Herr Gabriel, Ihre Reaktionszeiten sind kurz, Sie antworten schnell auf Kurznachrichten und E-Mails. Darf ich aus diesem Umstand folgern, dass Sie ständig auf einen Bildschirm starren?
Markus Gabriel: Ich bin umgeben von mehreren Bildschirmen, während ich arbeite. Und ich arbeite die ganze Zeit. Ihre Folgerung ist also zutreffend.

Wie oft schauen Sie täglich aufs Handy?
Mindestens so oft wie jeder andere, bestimmt alle drei Minuten. Es bedürfte einer neuen umfassenden Kulturtechnik, um mich davon abzubringen. Aber ich will mich davon nicht abbringen lassen. Ich liebe den Blick aufs Smartphone, das ich in der Freizeit freilich weit weglege.

Der neue Realist

Markus Gabriel (42) ist Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn und überdies Begründer des neuen Realismus, der international für Furore sorgt. Seit seinem Bestseller «Warum es die Welt nicht gibt» (Ullstein 2013) haben Begriffe wie Wahrheit, Wirklichkeit und Objektivität in den Geisteswissenschaften wieder einen positiven Klang. Zuletzt von ihm erschienen sind die Werke «Fiktionen» (Suhrkamp 2020) und «Die Macht der Kunst» (Merve 2021).

Markus Gabriel (42) ist Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn und überdies Begründer des neuen Realismus, der international für Furore sorgt. Seit seinem Bestseller «Warum es die Welt nicht gibt» (Ullstein 2013) haben Begriffe wie Wahrheit, Wirklichkeit und Objektivität in den Geisteswissenschaften wieder einen positiven Klang. Zuletzt von ihm erschienen sind die Werke «Fiktionen» (Suhrkamp 2020) und «Die Macht der Kunst» (Merve 2021).

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Und wenn es plötzlich nicht mehr auffindbar ist, empfinden Sie einen Moment des existenziellen Schreckens?
Genau so ist es. Aber ich habe vorgesorgt. Ich besitze mehrere Handys, also eine Art Sicherheitsnetz, das ich ständig mit mir herumtrage. Kommt ein Gerät abhanden, finde ich es durch Anruf von einem anderen aus. Das beruhigt ungemein.

Markus Gabriel ist ein deutscher Philosoph und Buchautor. Er sei zwar ständig umgeben von Bildschirmen, hält von sozialen Netzwerken aber nichts. Gabriel lehrt an der Uni in Bonn, wo dieses Foto entstand.
Foto: Theodor Barth/laif
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Weil Sie in steter Sorge sind, etwas zu verpassen?
Nein. Dagegen bin ich total resistent. Vielmehr bin ich in ständiger Sorge, nicht global vernetzt arbeiten zu können. Das Smartphone dient der Arbeit.

Wie wollen Sie arbeiten, wenn Sie ständig abgelenkt sind?
Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen – die Menschen denken nichts mehr zu Ende, sondern werden kurzatmig. Ich habe meine Zweifel an dieser These. In meinem Fall verhält es sich genau umgekehrt: Über die digitalen Kanäle arbeite ich ununterbrochen an meinen Problemen und Projekten, hoch konzentriert und vernetzt.

Wie das?
Ich bin in ständigem Austausch mit meinen Leuten. Einfach gesagt: Wir zerlegen in unserem Kommunikationsnetz grosse Probleme in Mikroprobleme und arbeiten sie ab. Durch die Digitalisierung ist die Mehrwertprojektion beschleunigt wie noch nie zuvor. Man kann sehr viel mehr sehr viel schneller erledigen, auch Geistiges. Das fasziniert mich total.

Sehen Sie sich als Schnelldenker?
Damit kriegen Sie mich nicht – denn der Titel hat einen schalen Beigeschmack. Schnelldenker sind die, die an der Oberfläche kratzen. Dazu zähle ich mich nicht.

Sind denn Schnelligkeit und Gründlichkeit kein Widerspruch?
Das klassische Bild des besinnlichen Philosophen, der an seinem Schreibtisch sitzt, in die Ferne blickt und über Probleme nachdenkt, teile ich nicht. Intelligenz ist ein Mass, das bestimmt, wie schnell wir Probleme lösen. Intelligenz hat also immer mit Geschwindigkeit zu tun. Und warum sollten wir Intelligenz verachten? Wir sollten sie vielmehr trainieren, um möglichst viele Probleme in möglichst wenig Zeit zu lösen.

Ihr Leben klingt anstrengend. Wie sorgen Sie dafür, dass der Geist nicht erlahmt?
Da bin ich konsequent: Ich nehme mir digitale Auszeiten, zum Beispiel von 6 bis 9 Uhr in der Früh. Da sehe ich höchstens eine Word-Oberfläche auf meinem Bildschirm, aber es treffen keine Nachrichten von der Welt da draussen ein, es blinkt und funkelt nichts. Häufig arbeite ich auch mit Stift und Papier, oldfashioned.

Das setzt präzises Kommunikationsmanagement gegenüber Arbeitskollegen und Familie voraus. Denn wenn Sie nicht sauber kommunizieren, sorgen sich die Leute, und der Telefonterror beginnt …
… absolut richtig. Meine engsten Mitarbeiter und meine Familie sind stets informiert.

Das bedeutet wiederum einen beträchtlichen zeitlichen Aufwand, der von der freien Denkzeit abgeht.
Aber der Aufwand lohnt sich. Dieses Gefühl, unerreichbar zu sein, fördert die Intensität des Lesens, Denkens oder Schreibens, jedenfalls in meinem Fall.

Ihre Antwort auf die Herausforderung der Fokussierung im digitalen Zeitalter lautet also: Sei entweder richtig digital oder richtig analog, aber nichts dazwischen!
Das ist mein Leitspruch. Und das wiederum ist eine digitale Errungenschaft: in or out, an oder aus, null oder eins. Im digitalen Zeitalter muss man sich digital verhalten.

Kaum jemand betrachtet die Umgebung oder die Gesichter der anderen Menschen, stattdessen schauen alle wie gebannt auf ihre digitale Schnittstelle. Was genau geschieht da mit den Leuten?
Menschen interessieren sich für Menschen. Und was sie auf dem Bildschirm sehen, sind letztlich immer von Menschen hergestellte Informationen über Menschen. Das heisst: Sie beobachten tatsächlich Menschen. Man ist also sozialer unterwegs, wenn man auf die Schnittstelle schaut, als wenn man sich in der Umgebung umschaut. Das Netz ist konzentrierte Sozialität.

Aber das ist natürlich bloss eine Illusion.
Das ist es, bei genauerer Betrachtung, leider. Das Internet ist sozial geladene Elektrizität, es blinkt und funkelt die ganze Zeit. Das ist wie Casino, man ist high und glaubt zu gewinnen. Am Ende verliert man bloss. Man verliert Zeit und Energie. Man arbeitet meist beim stupiden Surfen in sozialen Medien und Nachrichtenkanälen ohne Vergütung, frei Haus, for free. Genial perfide.

Arbeiten – Sie meinen wegen der Daten, die beim Surfen generiert werden? Ist das nicht ein wenig zu hoch gegriffen?
Notorische User arbeiten in der Aktivzeit nicht für sich, sie arbeiten für andere. Das erkennen Sie mitunter daran, dass sie am Abend total erschöpft sind. Sie verrichten entfremdete Arbeit für kalifornische Softwarekonzerne. Da bin ich nun wirklich oldschool und gebe Karl Marx recht: Die Internet-User investieren ihre Zeit und Energie, um einen Mehrwert zu produzieren, von dem sie weder etwas mit- noch etwas abbekommen.

Das finden Sie schlimm?
Ich finde es skandalös. Das Internet ist für die User wie England im 18. Jahrhundert: Eine Menge Proletarier schuften sich zu Tode …

… come on! Man liest ja allenthalben, dass wir vorsichtig mit unseren Daten umgehen sollten. Die EU-Kommissarin Margrethe Vestager hat die Technologiekonzerne in die Mangel genommen und dafür gesorgt, dass sie nun strenger reguliert werden.
Gewiss, das geht auch alles in die richtige Richtung. Aber ernsthaft – wer hat schon mal die Datenschutzrichtlinien in extenso gelesen, die da jeweils aufpoppen? Man klickt sie weg und basta. Und die viel wichtigere Frage der Vergütung hat die Politik noch nicht mal aufs Tapet gebracht. Dafür wäre es höchste Zeit!

Was wäre denn Ihre konkrete Forderung?
Es braucht einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn, der von den Techgiganten zu den Usern fliesst. Der kann je nach Gesetzeslage eines Landes unterschiedlich hoch ausfallen, aber er muss fixiert werden.

Das wird nicht funktionieren. Wenn alle einfach herumsurfen, um Geld zu verdienen, dann sind die dadurch generierten Daten nicht viel wert. Und dafür bezahlen die Techkonzerne nicht.
Das ist nicht das Problem der User, sondern der Techkonzerne.

Nicht nur. Denn die User wollen ja herumsurfen – gäbe es diese Möglichkeit nicht mehr, sie würden danach lechzen!
Da täuschen Sie sich womöglich. Wenn Sie erst mal von der Droge entwöhnt sind, dann gehts auch ohne. Und Sie fühlen sich plötzlich viel besser.

Warum sind Sie eigentlich selbst nicht auf Twitter? Das Medium ist schnell, effizient, pointiert, das müssten Sie doch lieben.
Ich halte Twitter für eins der demokratiegefährdendsten Systeme überhaupt. Es ist geradezu unmoralisch, auf Twitter zu sein. Donald Trump hat Twitter verwendet, um seinen Feldzug gegen die wichtigste Demokratie auf dem Planeten Erde zu führen. Und es ist ihm fast gelungen, die amerikanische Demokratie zu zerstören, der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 hätte auch übel enden können.

Nun greifen Sie zum Zweihänder. Warum, bitte, soll Twitter amoralisch sein?
Aller Moralismus ist mir fremd, verstehen Sie mich richtig. Twitter aber ist tatsächlich böse – und das meine ich wörtlich, weil es das Schlechteste aus den Menschen herausholt. Twitter gilt als legitimer Informationskanal, als sogenannter Kurznachrichtendienst. Das ist natürlich völliger Bullshit.

Warum?
Twitter hat nichts mit Nachrichten zu tun, es ist nichts anderes als geballte, in kurze Sätze verpackte Aggression. Da werden Leute gegeneinander aufgehetzt und Institutionen fertiggemacht. Die Frage wäre, ob wir Twitter nicht sogar in der jetzigen Form verbieten müssten.

Die menschlichen Aggressionen werden ja nicht von Twitter generiert, die gibts sowieso. Sie werden da höchstens kanalisiert. Und mit diesen Aggressionen müssen wir gesamtgesellschaftlich umgehen lernen.
Diese Aggressionen gabs schon immer, da haben Sie recht, aber sie haben weniger Unheil angerichtet, weil sie grösstenteils in den gesellschaftlichen oder politischen Prozess eingebunden wurden. Twitter ist Fake: Das Ding tut so, als wäre es ein Nachrichtendienst, aber es ist in Wahrheit eine Kampf- und Kriegsmaschine. Darum bitte, liebe Politiker, Institutionen und Ämter: Den Twitter-Account gleich löschen und Twitter am besten gleich abschaffen!

Ich fürchte, Sie reden sich in Rage. Twitter ist einfach ein Tool, in dem sich geltungssüchtige Journalisten und Politiker Saures geben.
Ich wünschte, Sie hätten recht. Aber Twitter ist gefährlich. Das Tool verzerrt aufgrund der ständigen aggressiven Pseudodebatten längst auch den öffentlichen Diskurs und unsere Wahrnehmung. Weil eben Journalisten selbst auf Twitter unterwegs sind, um ihren jeweiligen Stamm zu pflegen, sind sie ganz begierig nach Twitter-Storys.

Halten Sie sich von allen sozialen Netzwerken fern?
Selbstverständlich. Solche Netzwerke sind Blink-Blink und Simsalabim. Die fressen nur Zeit und Energie, und sie bringen den emotionalen Haushalt der Menschen durcheinander. Total überflüssig, meiner Ansicht nach. Das einzige soziale Netzwerk, auf dem ich leider noch zu häufig unterwegs bin, ist die Google-Suchmaschine.

Von Ihnen stammt der Satz: «Das Wesen der sozialen Netzwerke ist der Shitstorm.» Ist das Ihr letztes Wort?
Das wäre sozusagen mein Tweet über Twitter und Co. Nichts erfreut die User mehr, als einen Shitstorm auszulösen oder daran mitzuwirken. Das gilt für alle sozialen Netzwerke, sie haben eine schon immer brutal unterschätzte monokratische Dimension. Man verbindet sich mit Gleichgesinnten gegen andere, um sie zu zerstören. Soziale Medien sind mittelalterliche Foren. Sie sind der moderne Pranger. Unsäglich. Total daneben. Stop it!

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