Pedro Lenz zum Tod von Endo Anaconda
Mensch, Endo

Er erreichte mit seiner Musik alle. Endo Anaconda war ein Poet mit Breitenwirkung. Gescheit genug, um seiner Bildung zu misstrauen. Jetzt ist er weg. Dabei hätten wir ihn noch gebraucht. Ein Nachruf.
Publiziert: 05.02.2022 um 16:02 Uhr
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Aktualisiert: 05.02.2022 um 16:17 Uhr
Pedro Lenz

Irgendwer muss am Ende immer das Licht löschen. Bei ihm tat es die Lunge. Seine Nieren waren schwach, sein Herz in mancherlei Hinsicht angeschlagen, seine Leber malträtiert, sein Magen ramponiert, die Kniegelenke operiert. Aber am Schluss war es die Lunge, die Endo Anacondas Licht gelöscht hat. Dieses melancholisch vernebelte Licht, das die Sensibleren unter uns über Jahrzehnte erhellt hat, ist für immer ausgegangen.

Endo Anaconda starb am letzten Dienstagabend in Olten, gleichsam mit den Stiefeln an den Füssen, wie man in Spanien sagt, wenn einer mitten aus dem Arbeitsleben stirbt. Mit seinem Tod verlieren wir einen bedeutenden Künstler, einen musizierenden Dichter, der auch ein dichtender Musiker war. Aber sind Musik und Poesie nicht ohnehin zwei Ausdrücke für die gleiche, unstillbare Sehnsucht nach beständiger, menschlicher Wärme?

Anaconda, der mit bürgerlichem Namen Andreas Flückiger hiess, kam 1955 im Kanton Bern zur Welt. Er verlor als kleiner Bub seinen Vater. Hierauf verbrachte der Halbwaise einen grossen Teil seiner Kindheit und Jugend in katholischen Internaten in Österreich, der Heimat seiner Mutter. Er habe Prügel ertragen und viel Leid erlebt in jenen Jahren, sagte er später. Gleichzeitig hat das Rituelle und das Repetitive am katholischen Hochamt auch eine Faszination auf ihn ausgeübt, die in seine Kunst hineingewirkt hat.

«Endo hörte den Leuten auf der Strasse oder in den Beizen beim Reden zu und formte aus diesem Sprachmaterial seinen eigenen Sound», schreibt Pedro Lenz.
Foto: Keystone
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Redaktor zu Endo Anaconda:Vom Kleinkriminellen zum grossen Schweizer Mundart-Musiker

Sound der Beizen

Als er als Erwachsener zurück in die Schweiz kam, machte er die nie ganz fremde und auch nie ganz vertraute Vatersprache zur Sprache seiner Kunst. Das geschah erst allmählich, denn anfangs dichtete er auf Hochdeutsch. Erst im Lauf der Zeit begann er die Umgangssprache zu bevorzugen, weil er spürte, dass ihr eine andere Musik zu entlocken ist als der Hochsprache. Weniger die unmittelbare Nähe des Dialekts interessierte ihn, sondern die Möglichkeit, von aussen darauf blicken zu können. Endo hörte den Leuten auf der Strasse oder in den Beizen beim Reden zu und formte aus diesem Sprachmaterial seinen eigenen Sound.

Pedro Lenz

Pedro Lenz (56) ist Schriftsteller und schreibt oft in Mundart. Sein Roman «Der Goalie bin ig» ist ein moderner Klassiker. Lenz kannte Endo Anaconda seit Jahrzehnten. Er wohnt mit seiner Familie in Olten SO.

Sven Thomann

Pedro Lenz (56) ist Schriftsteller und schreibt oft in Mundart. Sein Roman «Der Goalie bin ig» ist ein moderner Klassiker. Lenz kannte Endo Anaconda seit Jahrzehnten. Er wohnt mit seiner Familie in Olten SO.

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Anaconda war zeitlebens ein Aussenseiter. Ihm gefiel es, nicht nur die Sprache, sondern auch die Eigenheiten seiner Mitmenschen und die Marotten der jeweiligen Epoche von aussen zu betrachten. Alles, was ihm dabei auffiel, vermochte er in Poesie umzuwandeln. Seine Einsamkeit pflegte er gerne auch unter Menschen. Dabei nahm er in Kauf, von allen angequatscht und angepumpt zu werden. Allerdings liess er diejenigen, die ihn gerne hatten, nur ausnahmsweise an sich heran. In seinem Song «Chräie» erklärt er sein fehlendes Talent zur Treue mit den trostlos traurigen Zeilen: «Aus won i ha gliebt, han i vertribe. Nur d Chräie si mer blibe.»

Tänzelnd durch die Nacht

Seine Anfänge als Bühnenkünstler reichen rund vierzig Jahre zurück. In einer Zeit und in einer Umgebung, in der die rebellierende Jugend mit zerschlissener Kleidung provozieren wollte, fiel der junge Endo in seinen feinen Anzügen und den sauber polierten, rahmengenähten Lederschuhen doppelt auf. Schon bevor wir ihn als Sänger wahrgenommen hatten, sahen wir ihn als Gedichte rezitierenden Dandy durch Berns Nachtleben tänzeln. Denn seiner Körperfülle zum Trotz hatte er immer einen geschmeidigen Gang. Er umgab sich mit Kunstmalern, Musikern, Poeten, Nachtclubtänzerinnen und Kleindealern. Und er liebte die Nacht.

An einem Uni-Fest in der Mitte der 1980er-Jahre stand er unter der Kuppel im Dachgeschoss des Uni-Hauptgebäudes in Bern auf einer kleinen Bühne. Seine damalige Band hiess Andreas Flückiger und die Alpinisten. Der Mann, der sich bald darauf nur noch Endo Anaconda nennen sollte, sang vom Opium, vom Fressen und vom blinden Gehorsam der Kriegsgeneration.

Einer seiner Mitmusiker bei den Alpinisten war Ueli Balsiger, der sich später Balts Nill nannte und Mitbegründer von Stiller Has wurde. Es hörten nur wenige Eingeweihte zu an jenem Uni-Fest. Trotzdem strahlte dieser dandyhafte Dichter schon damals jene poetische Kraft aus, die ihn später zu einer Art Rockstar machen sollte.

Ein populärer Poet

Eines der schwer erklärbaren Phänomene an Endo Anacondas Kunst ist ihre Breitenwirkung. Er war populär, ohne Pop zu machen. Normalerweise erreichen Poeten seiner Klasse bloss eine begrenzte Anzahl Menschen. Intellektuelle haben die oft unbewusste Angewohnheit, unter sich zu bleiben. Poesie bewegt sich im Umfeld von Bibliotheken und Bücherregalen. Menschen, die sich für Literatur interessieren, bilden in jeder Gesellschaft eine Minderheit. Dennoch ist es Endo Anaconda scheinbar mühelos gelungen, diesen engen Zirkel zu durchbrechen. Mit seiner Dichtkunst hat er Hallen gefüllt und Menschenmassen begeistert. Wie vor ihm etwa Pablo Neruda oder Charles Bukowski hat Anaconda die unsichtbare Barriere zu den weniger gebildeten Schichten überwunden. Jede und jeder konnte ihn verstehen, von «Shanghai bis Schangnau», um es mit seinen eigenen Worten zu illustrieren.

Anaconda konnte Shanghai und Schangnau in einer Liedzeile vereinen, weil in beiden Wörtern der gleiche Klang vorherrscht. Dass er damit auch noch zwei scheinbar unvereinbare Welten verband, war ein Nebenprodukt seines Klangspiels.

Der Verstorbene benutzte die Sprache wie ein Kleinkind. Er hörte dem Klang der Wörter nach und spielte damit, als spielte er mit einem feinen Glockenspiel, einer Rassel oder einer Pauken-Batterie.

Endo Anaconda (†66) ist tot
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Antifaschist, aber kein Phrasendrescher

Wer mit ihm sprach, merkte es bald. Endo Anaconda war gebildet und belesen, aber er war auch gescheit genug, seiner Bildung zu misstrauen, sobald er sich ans Dichten machte. Er bewegte sich weit neben den ausgetrampelten Pfaden der Popmusik-Verseschmiede. Anacondas Metaphern hatten eine lässige Beiläufigkeit, und seine Reime waren nie aufgesetzt. Trotzdem war er kein Blödelbarde. Dafür waren seine politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen zu stark. Anaconda hatte eine klare, antifaschistische Haltung, ohne deswegen in ideologische Phrasendrescherei abzudriften. Darum klingen auch seine älteren Lieder frisch wie ein Gin Tonic mit viel Eis und Zitrone.

Endo Anacondas Lebenslicht ist am letzten Dienstagabend für immer ausgegangen. Seine Lieder leuchten uns einen Weg aus dem Dunkel der Sprachlosigkeit.

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