Religionswissenschaftlerin über die neuesten spirituellen Trends
«Heute ist jeder sein eigener Guru»

Kleine Sehnsuchtsorte statt dem grossen spirituellen Trip: Die Religionswissenschaftlerin und Professorin Dorothea Lüddeckens spricht darüber, wie sich die Sinnsuche verändert.
Publiziert: 01.06.2019 um 10:17 Uhr
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Aktualisiert: 01.06.2019 um 11:10 Uhr
Prof. Dorothea Lüddeckens von der Theologischen Fakultät Zürich.
Foto: zvg
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Interview: Katja Richard

Kleine Sehnsuchtsorte statt dem grossen spirituellen Trip: Die Religionswissenschaftlerin und Professorin Dorothea Lüddeckens (52), die an der Uni Zürich lehrt, erklärt, wie sich die Sinnsuche verändert.

BLICK: Frau Lüddeckens, eine ehemalige Schönheitskönigin macht Tantra-Workshops – ist Esoterik hip?
Dorothea Lüddeckens: Was Mahara anbietet, ist typisch für den Zeitgeist: Es ist eine attraktive Mischung aus einer sinnlichen und positiven Körpererfahrung, verknüpft mit dem Wunsch nach einem spirituellen Erlebnis und persönlicher Weiterentwicklung. Anders als bei Wellness ist das nicht passiv, sondern man trägt aktiv dazu bei. Und es geht nicht um äussere, sondern innere Schönheit.

Es gibt auch Yoga mit DJ oder ekstatisches Tanzen. Was halten Sie davon?
Das geht in dieselbe Richtung wie Tantra. Die spirituelle Erfahrung wird mit Lebensfreude und Vergnüglichem verbunden, sie wird zum Erlebnis und ist die Gegenbewegung zur Askese, also dem Verzicht. Interessant ist, das solche Angebote überall auftauchen. Sei es im Volkshaus, einer offenen Kirche, im Fitness- oder Yoga-Studio. Ein Trend, der sich gut vermarkten lässt.

Also auch ein gutes Geschäft?
Das muss es nicht, aber kann es sein. Yoga, aber auch anderes im Bereich Körperarbeit, Heilung und Spiritualität ist inzwischen ein riesiger Markt. Vieles davon sind kleine und individuelle Angebote. Wer ein unternehmerisches Flair hat, findet hier ein Feld. Man braucht kein Studium und muss auch nicht jahrzehntelang ins Kloster – dadurch gibt es aber auch kaum Qualitätsstandards.

Ist es bloss ein Trend oder eine neue Form von Spiritualität? 
Was wir hier beobachten können, ist etwas, das sich über die letzten Jahrzehnte entwickelt hat. Früher reiste man für die Sinnsuche zum Beispiel nach Indien. Dort verbrachte man Zeit in Ashrams (Klöstern) und bei Gurus. Ein gutes Beispiel dafür ist die Bewegung um Bhagwan in den 1970er-Jahren. Die Anhänger trennten sich von ihrem normalen Leben und wurden zu spirituellen Aussteigern.

Und heute ist das nicht mehr nötig ...
Genau. Man muss sein Leben nicht gross verändern, sondern findet auch ums Eck kleine Sehnsuchtsorte. Sie ermöglichen einen temporären Ausstieg aus dem Alltag, um Ressourcen aufzutanken. Es sind Gemeinschaften auf kurze Zeit, ohne grosse Verpflichtungen. Man muss sich nicht langfristig Regeln unterwerfen oder einem Guru anschliessen. 

Ist die Zeit der Gurus also vorbei?
Heute ist jeder sein eigener Guru. Wir leben in einer Zeit mit viel Eigenverantwortung. Das hat sein Gutes, aber die Ansprüche für ein erfolgreiches Leben sind sehr hoch. Man muss alles selber erschaffen – seine Gesundheit, Schönheit und Karriere.

Gibt es auch Risiken und Nebenwirkungen? 
Selbstoptimierung kann ins Negative kippen, besonders wenn man sich dabei unter Leistungsdruck setzt. Oder wenn alles davon abhängt, etwa wenn Leute glauben, dass ihre Gesundheit nur mit ihrer spirituellen Leistung zu tun hat – dann ist es gefährlich. Grundsätzlich hat diese Bewegung aber etwas Positives und Unterstützendes. Und immerhin ist es eine Form von Religion, die ohne Bomben auskommt. 

Das Om ersetzt das Amen in der Kirche, die Bänke bleiben leer. Warum?
Das hat viele Gründe. Zum einen fällt heute der soziale Druck weg, den es früher gab. Zum andern sind viele Menschen in unserer Gesellschaft heute eher an Angeboten interessiert, bei denen es weniger um Gemeinschaft als um sie selbst geht, ihre eigene Entwicklung, um Entspannung und körperbezogene Praktiken. Yoga, Meditation und ein bisschen Spiritualität können zum Lifestyle gehören, kirchliche Angebote erscheinen da vielen eher uncool. 

Erlebt die Sinnsuche einen Boom?
Die Menschen haben schon immer nach Sinn gesucht. Aber heute gibt es viel mehr Angebote und auch das Bedürfnis, sich individuell auf die Suche zu begeben. Man will nicht einfach Vorgegebenes übernehmen, sondern eigene Erfahrungen machen.

Wie viele von uns sind eigentlich spirituell?
Das lässt sich auch trotz Befragungen schwer fassen. Denn Spiritualität bedeutet für die einen das Beten, für die anderen das Besteigen eines Berges, morgendliches Yoga oder einfach die Frage nach Sinn.

Frauen sind spiritueller

Frauen befassen sich eher mit Spiritualität und Religion als Männer, das ergab die aktuellste Befragung vom Bundesamt für Statistik. So glauben 58 Prozent der Frauen und lediglich 37 Prozent der Männer an Engel oder übernatürliche Wesen, die über uns wachen. Über die Hälfte der befragten Frauen glaubt, dass es Menschen gibt, die über die Gabe des Heilens oder Hellsehens verfügen, bei Männern sind es 42 Prozent. Frauen praktizieren ihren Glauben im Durchschnitt häufiger: 35 Prozent beten regelmässig, bei Männern sind es 20 Prozent. Bewegungs- oder Atmungstechniken mit spirituellem Inhalt (wie Yoga oder Meditation) sind mit einem Anteil von 27 Prozent bei Frauen beliebter als bei Männern (11 Prozent).

Frauen befassen sich eher mit Spiritualität und Religion als Männer, das ergab die aktuellste Befragung vom Bundesamt für Statistik. So glauben 58 Prozent der Frauen und lediglich 37 Prozent der Männer an Engel oder übernatürliche Wesen, die über uns wachen. Über die Hälfte der befragten Frauen glaubt, dass es Menschen gibt, die über die Gabe des Heilens oder Hellsehens verfügen, bei Männern sind es 42 Prozent. Frauen praktizieren ihren Glauben im Durchschnitt häufiger: 35 Prozent beten regelmässig, bei Männern sind es 20 Prozent. Bewegungs- oder Atmungstechniken mit spirituellem Inhalt (wie Yoga oder Meditation) sind mit einem Anteil von 27 Prozent bei Frauen beliebter als bei Männern (11 Prozent).

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